Birte Egloff
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-137
Bei der Herausbildung moderner → Gesellschaften versteht man unter I. eine Entwicklung, bei der der einzelne Mensch mit seiner einzigartigen → Biografie, seinen spezifischen Fähigkeiten und Ressourcen in den Mittelpunkt rückt. Demgegenüber steht eine Sichtweise auf den Menschen, die ihn als Teil eines Kollektivs in starre Strukturen und tradierte Denk- und Verhaltensweisen eingebunden betrachtet. Neben einer soziologischen Beschreibung strebt I. an, den Einzelnen aus diesen institutionellen Vorgaben herauszulösen. Insofern enthält I. einen emanzipatorischen Kerngedanken mit dem Ziel, den Mensch zu einem autonom denkenden und handelnden Subjekt zu entwickeln (→ Autonomie).
Der Begriff I. hat v. a. über die zeitdiagnostischen Arbeiten des Soziologen Ulrich Beck zur „Risikogesellschaft“ (1986) und zur „reflexiven Modernisierung“ (1996) zu neuer Aufmerksamkeit in den Sozialwissenschaften gefunden. Beck hebt den doppelten Charakter der I. hervor: Zwar erhöhen sich durch sie die Möglichkeiten und Freiheitsgrade in allen Bereichen der Gesellschaft, doch sind die Individuen auch einem erhöhten Druck ausgesetzt, ihre Biografien aktiv zu gestalten und Entscheidungen selbstständig zu treffen. Damit haftet dem Prozess der I. auch ein Zwangsmoment an, das unter dem Begriff „Selbstoptimierung“ kritisch diskutiert wird (Eulenbach & Fuchs, 2022).
Die Erwachsenenbildung greift beide Seiten der I. auf. Einerseits ruft sie in einer stimulierenden Funktion mit Konzepten wie dem Lebenslangen Lernen (→ lifelong learning) Erwachsene dazu auf, Lern- und Bildungsmöglichkeiten zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung zu nutzen. Andererseits hilft sie in einer orientierungs- und ordnungsstiftenden Funktion Erwachsenen dabei, sich in einer komplexen Welt (wieder) zurechtzufinden. Im Kontext von Modernisierungsprozessen (→ Modernisierung) übernimmt die Erwachsenenbildung damit gleichermaßen eine antreibende und beeinflussende wie eine kompensatorische und unterstützende Aufgabe, was nicht nur Ausdruck ihrer Programmatik ist, sondern auch empirisch belegt werden kann.
I. und Erwachsenenbildung wurden aber nicht erst im Rahmen soziologischer Zeitdiagnosen miteinander verknüpft. Betrachtet man bspw. die Begriffe, mit denen das Lernen Erwachsener seit der → Aufklärung etikettiert wurde, so lässt sich von der Volksbildung über die Erwachsenen- und Weiterbildung bis hin zum lebenslangen Lernen eine Linie aufzeigen, bei der Erwachsene zunehmend als Träger individueller Biografien wahrgenommen und ihre Subjektivität und Eigenständigkeit stärker berücksichtigt werden (→ Subjektorientierung). Dies spiegelt sich auch in der Aufwertung didaktischer Prinzipien wie der Lebenswelt- oder → Teilnehmerorientierung wider. Insb. seit Beginn der 1980er Jahre ist ein gestiegenes Interesse an den Biografien, dem → Alltag und den Lebensumständen (→ Lebenswelt) von Adressatinnen und Adressaten und Teilnehmenden der Erwachsenenbildung festzustellen („reflexive Wende“). Lernen und → Bildung werden nicht mehr auf ihre Verwertbarkeit reduziert, sondern mit Selbstbildung und Persönlichkeitsentwicklung (→ Persönlichkeitsbildung) verbunden. Dies lässt sich einerseits mit einer zunehmenden Durchdringung des Alltags mit pädagogischen Fragen erklären („Pädagogisierung der Lebenswelt“), andererseits mit der Etablierung insb. qualitativer Forschungsverfahren, z. B. in der Biografieforschung, die auf die individuellen Lebenswege und dabei auf selbstgesteuertes Lernen (→ Selbstorganisation – Selbststeuerung –
Selbstlernen) und informelle Bildung fokussiert. So erlangen subjektorientierte, aneignungstheoretische und systemisch-konstruktivistische Sichtweisen (→ Konstruktivismus) in der Erwachsenenbildungswissenschaft an Bedeutung. Diese betonen die autonome Aneignung – in dezidierter Abgrenzung zu institutions- und professionszentrierten Programmatiken.
Mit dem fortschreitenden technologischen und → sozialen Wandel setzt sich insb. in der westlichen Welt auch der Prozess der I. fort. Dies lässt sich durch die Zunahme der Möglichkeiten und Angebote in vielen Bereichen (z. B. individuelle Lebensführung, Freizeit und Konsum, digitale Medien) beobachten. Zugleich lassen sich aber auch divergierende Erscheinungen auf vielen Ebenen ausmachen. Angesichts der großen gesellschaftlichen und nur gemeinsam zu lösenden Herausforderungen, wie Klimawandel, Demokratiebildung oder Pandemien und Umweltkrisen, stellt sich die Frage, inwiefern diese Entwicklungen zu Lasten der Gemeinschaft, zum Verlust von Solidarität und zur Zunahme von Ungleichheit führen oder aber, inwiefern sie die Chance für die Entstehung von Alternativen bieten, z. B. andere Formen der Vergemeinschaftung oder neue soziale Bewegungen. Diese Fragen sind Gegenstand der soziologischen Forschung (z. B. Reckwitz, 2017), aber auch aus Sicht der Erwachsenenbildung von Interesse, da ihr nach wie vor eine aufklärende, vermittelnde und ausgleichende Funktion in diesem Spannungsgefüge zukommt.
Literatur
Wittpoth, J. (Hrsg.). (2001). Erwachsenenbildung und Zeitdiagnosen. Theoriebeobachtungen (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung). Bielefeld: W. Bertelsmann.
Eulenbach, M. & Fuchs, T. (Hrsg.). (2022). Selbstoptimierung – theoretische und empirische Erkundungen. Weinheim: Beltz Juventa.
Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.