Josef Schrader
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-136
Fragen der I. werden in der Philosophie, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der → Anthropologie, den Genderstudies und in verschiedenen Teilbereichen der Psychologie thematisiert. Persönlichkeits- und Sozialpsychologie konzentrieren sich darauf, Antworten zu analysieren, die Individuen sich selbst oder anderen auf die Frage „Wer bist Du?“ geben.
Während es lange üblich war, zwischen personaler und sozialer I. zu unterscheiden, überwiegt heute die Annahme, dass alle Identitätsvorstellungen sozial konstruiert werden. Dies geschieht in der Auseinandersetzung mit wichtigen Bezugspersonen v. a. in Familie und sozialem Umfeld; die Relevanz von Bildungserfahrungen (→ Erfahrungen – Erfahrungsorientierung) wird in der Psychologie nur selten thematisiert. Während I. lange als einzigartig, real und stabil galt, wird sie inzwischen auch als multipel, konstruiert und veränderbar begriffen. Damit geraten Strategien der Identitätskonstruktion in den Blick, die z. B. durch die gezielte Wahl sozialer Kontexte unterstützt werden können und die durch den Wunsch nach Selbstachtung, Unterscheidbarkeit, Kontinuität, Bedeutung, Wirksamkeit und Zugehörigkeit motiviert sind (Vignoles, 2019).
Die erwachsenenpädagogische Diskussion hat vielfältige Bezüge zu Identitätskonzepten hergestellt. Breit rezipiert wurde bspw. George H. Meads (1934) Theorie symbolvermittelter Kommunikation, in welcher Identitätsbildung (I, Me) als „sozialer Akt“ interpretiert wird, der sich in den Medien von Sprache, Spiel (play) und Wettkampf (game) vollzieht. Aufmerksamkeit fand zudem das Stufenmodell psychosozialer Entwicklung des Freud-Schülers Erik Erikson (1973 [1959]). Erikson konzipiert die Entwicklung personaler und sozialer I. als lebenslangen Prozess, der sich im Spannungsfeld von Bedürfnissen und Wünschen einerseits und Anforderungen der sozialen Umwelt andererseits vollzieht – im Spannungsfeld von Intimität und Isolierung im frühen Erwachsenenalter, von Generativität und Stagnation in den mittleren Jahren, von Integrität und Verzweiflung im höheren Alter. Eher implizite Bezüge zu Identitätskonzepten finden sich in Bildungstheorien, so in dem bereits klassischen Verständnis von → Bildung als ständige Bereitschaft, sich selbst, die → Gesellschaft und die Welt zu verstehen und diesem Verständnis gemäß zu handeln. In diesem Sinne sah Hans Tietgens (1981, S. 26, 183) das Ziel der Erwachsenenbildung in einem Beitrag zur „Identitätsbalance“ zwischen personaler und sozialer I. sowie zwischen Identitäts- und Qualifikationslernen, wie es der → Deutsche Bildungsrat formuliert hatte.
Darüber hinaus hat die Erwachsenenbildung in vielfältigen Diskussionszusammenhängen Bezüge zu Fragen der I. und Identitätsentwicklung Erwachsener hergestellt, mal ausdrücklich, mal beiläufig. Das gilt für Konzepte des → biografischen Lernens (Peter Alheit), für den Entwurf einer → systemischen Erwachsenenbildung (Rolf Arnold), für die subjektorientierte Didaktik (→ Subjektorientierung) (Erhard Meueler) und den Deutungsmusteransatz (→ Deutungsmuster) (Rolf Arnold), für die Thematisierung des Umgangs mit kritischen Lebensereignissen (Sigrun-H. Filipp) oder mit Herausforderungen gebrochener I. (Oskar Negt), für die Zielgruppenarbeit (→ Zielgruppenorientierung) (Ortfried Schäffter), die Beratung in beruflichen Übergangsprozessen (→ Beratung im Kontext lebenslangen Lernens) (Christiane Schiersmann), für die Klassifizierung von Wissensformen (→ Wissen) (Josef Schrader), für die Reflexion gruppendynamischer Prozesse (→ Gruppendynamik) (Tobias Brocher, Ruth Cohn) oder für die professionelle Grenzziehungen zwischen Bildung, Beratung und Therapie (→ Profession) (Enno Schmitz). Empirische Studien, in denen die Bedeutung organisierter Erwachsenenbildung für die individuelle oder kollektive Identitätsentwicklung analysiert wird, sind dagegen rar. Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Jochen Kade dar, in deren Rahmen er der Frage nachgeht, in welchem Sinne die → Aneignung von Kursinhalten zur Lösung von Identitätsproblemen der Teilnehmenden beiträgt. Gestützt auf offene Interviews rekonstruiert Kade mit dem Wissen um lebensweltliche (→ Lebenswelt) und biografische Hintergründe (→ Biografie) Beiträge zur individuellen Identitätsentwicklung, zum Wiederaufbau von I. durch soziale Zugehörigkeit sowie zum Identitätserhalt durch → Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung.
Es ist zu erwarten, dass der Bedarf an Forschung zum Zusammenspiel des Lernens Erwachsener mit der Identitätsarbeit von Individuen steigen wird, da soziale Kontexte in Einwanderungsgesellschaften (→ Migration) und angesichts einer zunehmend digital vermittelten Kommunikation (→ digitales Lernen) vielfältiger und dynamischer werden.
Literatur
Erikson, E. H. (1973 [1959]). Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze (Reihe Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 16, aus d. Amerik. übers. v. K. Hügel). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kade, J. (1989). Erwachsenenbildung und Identität. Eine empirische Studie zur Aneignung von Bildungsangeboten. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Mead, G. H. (1934). Mind, self, and society (ed. by C. W. Morris). Chicago (US): Chicago University Press.
Tietgens, H. (1981). Die Erwachsenenbildung (Reihe Grundfragen der Erziehungswissenschaft, Bd. 14). Eichstätt: Juventa.
Vignoles, V. L. (2018). Identity: personal AND social. In K. Deaux & M. Snyder (Eds.), The Oxford handbook of personality and social psychology (2nd ed., pp. 289–316). New York (US): Oxford University Press.