Gender in der Erwachsenenbildung

Anne Schlüter

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-115

Von weiterführender Bildung und politischer Teilnahme waren Frauen bis ins 20. Jh. rechtlich ausgeschlossen. Erst mit der Entstehung der institutionellen Erwachsenenbildung nutzten sie Angebote der Volkshochschulen (vhs). Nach Eggemann (2001, S. 16) stieg die Teilnahmequote der Frauen an vhs-Kursen zwischen 1919 bis 1925 auf ca. 50 Prozent und hielt sich bis 1933 auf diesem Stand. Der Nationalsozialismus prägte dann Frauen- und Männerbilder, die öffentlich erst über die neue Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren infrage gestellt wurden. Mit der Frauenbildung schufen sich Frauen Orte, die ihnen die Reflexion sozial ungleicher Rollen in der Gesellschaft ermöglichten. Wie Frauenbildung und Männerbildung über Jahrzehnte praktisch und theoretisch behandelt wurden, verdeutlicht Schlüter (2010) anhand von Diskussionen über didaktische Ansätze zur Zielgruppenarbeit (Zielgruppenorientierung).

Ungleichheitsstrukturen (Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung) empirisch zu erfassen, ist eine grundlegende Forschungsfrage der Erwachsenenbildungswissenschaft (Weiterbildungsforschung), um in der praktischen Weiterbildung Bildungsangebote zur Verfügung stellen zu können, die als Ausgleich, Anpassung und Fortbildung für verpasste Chancen im Bildungssystem oder für Aufstiegsprozesse im Lebenslauf relevant sind. Historisch gesehen, ging es hierbei – bezogen auf die Geschlechterfrage – lange um gleiche Rechte auf Bildung, Ausbildung, Studium, Beruf, Erwerbstätigkeit und politische Einflussnahme für Frauen. Theoretisch wurde über Differenz und Gleichheit, über die Dekonstruktion des Geschlechterdualismus, über Sex und G., über Körper und Leiblichkeit, Macht und Ohnmacht, Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem, Matriarchat und Patriarchat und vieles mehr debattiert. Verschiedene Perspektiven auf die Erforschung vorherrschender Geschlechterverhältnisse brachten eine Unterscheidung nach theoretischen Ansätzen, die nicht allein auf die Funktion der Geschlechtlichkeit für eine Gesellschaft fokussiert, sondern auch in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Zugehörigkeiten Geschlechterordnungsvorstellungen berücksichtigt.

Traditionell ging man von einer hierarchischen Nach- und Unterordnung des weiblichen Geschlechts aus. Seit der Aufklärung hob man auf eine gleichwertige, aber komplementäre Ordnung der Geschlechter ab; sie sollten sich bezogen auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Aufgaben ergänzen. Dabei wies man den Frauen die Reproduktion des Menschengeschlechts bzw. die Sorgearbeit zu. Als weitere Variante ist die Gleichheit der Geschlechter zu nennen. Für diese kämpften die verschiedenen Frauenbewegungen seit Beginn des 19. Jh. Danach haben alle Geschlechter gesellschaftlich gesehen dieselben Chancen im Leben. Warum dies trotzdem nicht gelingt, lässt sich mit geschlechterdifferenzierender sozialer Platzierung vor dem Hintergrund sozialer und nationaler Herkunft begründen, denn Herkunftskulturen halten Normen und Werte bereit, die Ordnungsstrukturen schaffen. Diese zu durchschauen, ist und bleibt eine Aufgabe der Erwachsenenbildung in Form von politischer Bildung und Persönlichkeitsbildung (Schlüter, 2019).

Um diese Ordnungsstrukturen zu überwinden, gründete sich Mitte der 1990er Jahre weltweit die praktisch-politische Initiative des Gender-Mainstreaming. Sie zielte darauf ab, Zuschreibungen von Aufgaben zu den Geschlechtern u. a. durch intensive Werbung von Männern für die sog. Frauenberufe und umgekehrt von Frauen für die sog. Männerberufe aufzuweichen. Das Geschlecht sollte nicht den Lebensentwurf und damit das individuelle „Schicksal“ bestimmen; Geschlechterdemokratie wurde propagiert.

Seit etwa zehn Jahren beziehen sich Debatten und Forschung darauf, wie „Geschlecht“ als interdependente Kategorie zusammen mit Klasse, Ethnie, Milieu, Alter, Religion, Generation zu fassen und zu füllen ist. Theoretisch wird die Kategorie zur Erkenntnisgewinnung daher als „Geschlecht in Vielfältigkeitsdimensionen“ bezeichnet. Für die praktische Bildungsarbeit gewannen hierbei biografische Ansätze (Biografie) an Akzeptanz.

Literatur

Eggemann, M. (2001). Die Frau in der Volksbildung 1919–1933. Fünf Thesen zur Entwicklung und Bedeutung. In P. Cuipke & D. Derichs-Kunstmann (Hrsg.), Zwischen Emanzipation und ‚besonderer Kulturaufgabe der Frau‘ (S. 14–24). Essen: Klartext.

Schlüter, A. (2010). Frauen in der Erwachsenenbildung. In C. Zeuner (Hrsg.), Enzyklopädie Erziehungswissenschaft online (EEO), Fachgebiet Erwachsenenbildung. Weinheim: Beltz Juventa.

Schlüter, A. (2019). Bildung als Domäne des weiblichen Geschlechts. Gleichstellung und Erwachsenenbildung. Erwachsenenbildung, 65(2), 52–55.

Gedächtnis
Generation