Gedächtnis

Ursina Markwalder & Elsbeth Stern

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-114

Prozesse des Gedächtnisses umfassen das Aufnehmen, Speichern und Abrufen von Informationen und sind eine Voraussetzung für Lernen. Neurophysiologisch wird das G. als ein Netzwerk verstanden, in dem Nervenzellen interagieren. Werden Nervenzellen synchron aktiviert, bilden sich Spuren im G., die zunehmend stabiler werden – oder wie Donald O. Hebb es formulierte: „What fires together, wires together.“

Das G. wird nicht als eine Funktionseinheit, sondern als Mehrspeicher-Modell verstanden. Dabei spielen drei Gedächtnisarten eine wesentliche Rolle: das sensorische G. (auch: Ultrakurzzeitgedächtnis), das Arbeitsgedächtnis (ehemals: Kurzzeitgedächtnis) und das Langzeitgedächtnis. Das Langzeitgedächtnis wird seinerseits weiter unterteilt in das deklarative G. und das prozedurale G. Das deklarative G. umfasst kommunizierbare Inhalte episodischer oder semantischer Art. Das prozedurale G. beinhaltet Handlungswissen (z. B. motorische Fertigkeiten) sowie komplexe Wahrnehmungsmuster, die durch die gemeinsame Aktivierung von Einzelreizen entstanden sind.

Das Mehrspeicher-Modell zeigt auf, wie die in schneller Abfolge und großer Menge eingehenden Informationen aus der sensorischen Wahrnehmung (durch Sinnesmodalitäten wie Sehen und Hören) verarbeitet werden. Die im sensorischen G. eintreffenden Informationen werden triagiert (nach Priorität vorselektiert), und nur ein Bruchteil gelangt dann weiter ins Arbeitsgedächtnis. Dieses ermöglicht zielgerichtetes Handeln, indem es die Aktivierung und Deaktivierung von eingehenden Informationen und bestehendem Wissen in Abhängigkeit von den Zielen steuert. Es kann als „Torwächter“ zum Langzeitgedächtnis verstanden werden, da es die eingehenden Informationen mit dem aus dem Langzeitgedächtnis abgerufenen Wissen abgleicht. Das Arbeitsgedächtnis ermöglicht so die Bewältigung der sich aus der Umwelt ergebenden Anforderungen sowie das Erreichen der selbst gesetzten Ziele. Dies erfordert eine permanente Aktualisierung der im sensorischen G. eingehenden Informationen und dem aus dem Langzeitgedächtnis abgerufenen Wissen. Gleichzeitig treffen auch aus beiden Quellen Inhalte ein, die nicht zum angestrebten Ziel passen und die deshalb gehemmt werden müssen.

Prozesse des Arbeitsgedächtnisses unterliegen starker intra- und interindividueller Variation. Sie sind in hohem Maße an die Entwicklung des Frontalhirns gebunden, welche bis in das Jugendalter hineinreicht. Auch viele pathologische Gedächtnisprobleme, die im fortgeschrittenen Alter auftreten, haben ihre Ursache in Störungen des Frontalhirns und damit in den Funktionen des Arbeitsgedächtnisses. Über die gesamte Lebensspanne (Lebenslauf) hinweg hängen Funktionen des Arbeitsgedächtnisses eng mit Unterschieden in der Intelligenz zusammen (Intelligenzentwicklung im Erwachsenenalter). Intelligenzunterschiede zeigen sich einerseits in der Effizienz, mit der Informationen im Arbeitsgedächtnis verarbeitet werden, und andererseits in der Systematik, mit der Wissen im Langzeitgedächtnis so abgespeichert wird, dass es bei Bedarf wieder abgerufen werden kann.

Lernen findet statt, wenn die im Arbeitsgedächtnis vorgenommene Integration von eingehenden Informationen und bestehendem Wissen im Langzeitgedächtnis modalitätsspezifisch oder in Symbolsystemen (z. B. Sprache, Schrift, Zahlen) abgespeichert wird. Es kann davon ausgegangen werden, dass das Langzeitgedächtnis über ein uneingeschränktes Fassungsvermögen verfügt. Gespeicherte Informationen werden demnach nicht vergessen, weil sie verloren gegangen, sondern weil sie nicht mehr auffindbar sind. Ob Inhalte auch nach längerer Zeit wieder abrufbar sind, hängt ganz entscheidend davon ab, ob sie an ein bereits existierendes, gut geordnetes Wissensnetzwerk angegliedert werden. Inhaltsspezifisches Vorwissen ist deshalb der beste Prädiktor für die Merkleistung und für zukünftiges Lernen.

Allerdings sind die Auswirkungen des Vorwissens nicht ausschließlich positiv. Insb. wenn sich ein großer Fundus an Wissen angesammelt hat, der nur begrenzt systematisiert werden kann, kommt es vermehrt zu Abrufproblemen und Verwechslungen. Ein Beispiel dafür sind Namen, an die man sich mit zunehmendem Alter schlechter erinnern kann. Auch kommt es zu negativen Transfereffekten, wenn man gezwungen wird, eine Tätigkeit, die man sehr gut beherrscht, durch etwas Neues zu ersetzen. Die im Alter teilweise zu beobachtenden Lern- und Gedächtnisprobleme sind also nicht allein auf eine abnehmende Plastizität der Hirnfunktionen zurückzuführen (Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters).

Literatur

Martin, M. & Kliegel, M. (2014). Psychologische Grundlagen der Gerontologie (4., akt. u. überarb. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

Schneider, W. & Berger, N. (2014). Gedächtnisentwicklung im Kindes- und Jugendalter. In L. Ahnert (Hrsg.), Theorien in der Entwicklungspsychologie (S. 202–233). Berlin: Springer VS.

Stern, E. (2017). Individual differences in the learning potential of human beings. npj Science of Learning, 2(1), 1–7.

Funkkolleg
Gender in der Erwachsenenbildung