Annika Goeze & Josef Schrader
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-096
Unter „Fallarbeit“ wird in der → Erwachsenen- und Weiterbildung die strukturierte Auseinandersetzung mit realen oder realistischen Handlungssituationen aus der Bildungspraxis verstanden (Kade, 1990). Fälle können dabei alltägliche Routinefälle ebenso wie Ausnahmesituationen (Un-, Stör- oder Glücksfälle) repräsentieren, audio-, video-, text- oder simulationsbasiert, im Ausgang offen oder abgeschlossen, kurz oder lang sein. Sie können authentisches, nachgestelltes oder fiktiv konstruiertes Material enthalten und durch Kontextinformationen, Expertenmeinungen, Kommentare der Beteiligten o. Ä. didaktisch angereichert werden.
Ziel von fallbasierter W. und F. ist es, einen gegebenen, fremden oder eigenen Fall besser wahrnehmen, verstehen, analysieren oder diagnostizieren zu können und – darauf aufbauend – in eigenen zukünftigen Handlungssituationen fallangemessen agieren zu können (→ Kompetenz). F. W. und F. sind für unterschiedliche Personengruppen und in verschiedenen Funktionen einsetzbar. In der Erwachsenen- und Weiterbildung werden sie in der Aus- und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften (→ Professionalisierung; → Weiterbildung der Weiterbildenden), die zumeist (auch) auf der mikrodidaktischen Handlungsebene tätig sind (→ didaktische Handlungsebenen), praktisch genutzt und wissenschaftlich untersucht.
F. kann idealtypisch in drei unterschiedlichen Funktionen zum Einsatz kommen:
- Fälle können eingesetzt werden, um die Rekonstruktion des Eigenlogischen und Einzigartigen eines Falls zu ermöglichen. Der Fall wird als Fall sui generis verstanden. Der methodische Weg (→ Methoden) ist unter dem Primat der → Subjektorientierung die Sinnrekonstruktion entlang individueller Perspektiven und Handlungsproblematiken. Ziel ist das methodisch kontrollierte Fremdverstehen (→ Verstehen –
Verständigung) und die Fähigkeit zur Perspektivübernahme bzw. → Perspektivverschränkung. Diese Art der F. wurde u. a. von Kurt H. Müller und Joachim Ludwig entwickelt und in „Interpretationswerkstätten“ seit den 1990er Jahren praktiziert. - Auch können Fälle eingesetzt werden, um das (Wieder-)Erkennen des Paradigmatischen eines Falls zu ermöglichen. Der Fall wird hier als prototypisch verstanden und steht für mehr und anderes als sich selbst. Der methodische Weg ist unter dem Primat der Gegenstandsorientierung die Fallklärung durch ein theorie- oder modellgeleitetes Reframing. Ziel ist die Wissensanwendung bzw. der fallanlassbezogene Wissenserwerb (→ Wissen). Diese Art der Fallarbeit wird in der universitären Aus- und → beruflichen Weiterbildung klassischer → Professionen, z. B. in Medizin oder Jura, bevorzugt.
- Seit den 2010er Jahren empirisch umfangreich in den Arbeiten von Digel und Schrader (2013) und Goeze (2016) beforscht wurde eine weitere Funktion, die beide Konzeptionen miteinander verschränkt. Hier wird eine individuelle Professionalitätsentwicklung (→ Professionalität) für (angehende) Lehrende angestrebt. Diese will für Teilnehmende einer fallbasierten W. sowohl im Sinne einer Subjektorientierung Sinnrekonstruktion und Fremdverstehen der Akteure aus einer videografierten Lehr-Lern-Situation als auch im Sinne einer Gegenstandsorientierung die Erfahrung, wie die Anwendung von abstrakten Theorien und Modellen auf konkrete Handlungssituationen „praktisch“ sein kann (→ handlungsorientierte Didaktik), ermöglichen. In Forschungen konnte gezeigt werden, dass durch diese Art der Fortbildung stabile Verbesserungen der Wahrnehmung von Lehr-Lern-Situationen erreicht werden können, mit hoher Akzeptanz sowohl bei Novizen als auch bei erfahrenen Lehrkräften.
In allen drei genannten Funktionen grenzt sich die F. von einem reinen Erfahrungsaustausch ab; u. a. durch die gezielte Anreicherung bzw. Auseinandersetzung mit fallrelevantem Wissen unterscheidet sie sich von der → Supervision.
Literatur
Digel, S. & Schrader, J. (2013). Diagnostizieren und Handeln von Lehrkräften. Lernen aus Videofällen in Hochschule und Erwachsenenbildung (Reihe EB Buch, Bd. 35). Bielefeld: wbv Publikation.
Goeze, A. (2016). Professionalitätsentwicklung von Lehrkräften durch videofallbasiertes Lernen. Voraussetzungen, Prozesse, Wirkungen (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 35). Bielefeld: wbv Publikation.
Kade, S. (1990). Handlungshermeneutik. Qualifizierung durch Fallarbeit (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.