Emotion – emotionale Kompetenz

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-073

Mit dem Deutungsmusteransatz (Deutungsmuster) vollzog die erwachsenenpädagogische Debatte der 1980er Jahre eine deutliche Abkehr von mehr oder weniger normativ aufgeladenen Konzepten gelingender Bildung. Erwachsenenbildung wurde seit dieser Zeit in zahlreichen Beiträgen als Identitätslernen (Identität) und begleitete Selbsttransformation (transformative Erwachsenenbildung) konzipiert (Arnold, Nuissl & Rohs, 2017, S. 115ff.). Pate standen phänomenologische (Phänomenologie) und wissenssoziologische Konzepte. Erst in einem zweiten Schritt wurde spätestens seit Ende der 1990er Jahre auch auf systemisch-konstruktivistische Konzepte (Konstruktivismus) zurückgegriffen, wobei bereits wesentliche Aspekte einer autopoietischen Wende des Deutungsmusteransatzes in den Blick gerieten (Arnold & Siebert, 2006), ohne dass die innere Systemik des Sich-in-der-Welt-Orientierens mit ihren kognitiven und emotionalen Bestandteilen bereits vollständig ausgelotet wurde. Es dauerte nochmals fast zwei Jahrzehnte, bis im Kontext einer systemischen Erwachsenenbildung auch die „Hinwendung zum inneren Erwachsenen“ vollzogen und die „lernprozesstragenden Wirkungen des Emotionalen“ bzw. „die Persistenz des Emotionalen“ (ebd., S. 112ff.; Gieseke, 2012) im erwachsenenpädagogischen Diskurs fokussiert wurden.

Diese Entwicklung zeigt, dass sich auch im Deutungsmusteransatz das kognitivistische Bias (Kognition) eines der Aufklärung verbundenen erwachsenenpädagogischen Denkens auswirkt, das darin zum Ausdruck kommt, dass ihr ein Begriff des Emotionalen bis in die 1990er Jahre weitgehend fehlt. Ihre implizite Lerntheorie ist die eines „Begreifens“, in der sich auch der Anspruch artikuliert, dass eine Differenzierung von Deutungsmustern und Sichtweisen schon per se mit einem Lernfortschritt im Sinne einer gesteigerten Handlungskompetenz verbunden sei – ein Anspruch, der gerade in Anbetracht der früh eingespurten emotionalen Gewissheiten hinterfragt werden muss, scheint doch „Gewissheit“ eine eher emotionale als allein erkenntnisgetragene Befindlichkeit auszudrücken. Diese innere Logik erwachsenenpädagogischer Interaktion ist bis zum heutigen Tag in der Erwachsenenbildungsdebatte noch kaum in den Blick gerückt worden, sieht man einmal von den Vorarbeiten von Tobias Brocher (1917–1998), der „affektiven Bildung“ von Alexander Mitscherlich (1908–1982) sowie den Arbeiten von Günther Holzapfel und Wiltrud Gieseke ab, die zwar in der Erwachsenenbildung vereinzelt rezipiert, aber in ihren Kernanliegen nur sehr zurückhaltend aufgegriffen worden sind.

Dass Einsicht allein eher selten veränderungswirksam ist, zeigt nicht nur die neuere emotionspsychologische Forschung; auch bereits die Dissonanztheorie (Leon Festinger) wies darauf hin, dass der Mensch die Wirklichkeit so sieht bzw. sehen „muss“, wie er sie aushalten kann. D. h. Deutungen und Interpretationen der Welt streben „in sich“ nach einer Konsistenz, sie streben aber darüber hinaus auch nach einer emotionalen Stimmigkeit – eine Hypothese, der in der bisherigen erwachsenendidaktischen Forschung noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Geht man davon aus, dass unsere Gefühle unser ursprünglicher Verstand sind, so kann man – systemtheoretisch formuliert – in der erwachsenenpädagogischen Theoriebildung nicht länger davon abstrahieren, dass sich psychische Systeme durch Gedanken und Gefühle hervorbringen und entwickeln. Dies bedeutet, dass die Relativität der Weltsicht auch vor dem Hintergrund der früh eingespurten emotionalen Muster gesehen und verstanden werden muss. Menschen rekonstellieren häufig Emotionsmuster insb. in leistungsthematischen Situationen, in denen es um Angst und Unsicherheit bzw. Ungesichertheit geht, aber auch im Umgang mit Autoritäten.

Beide Elemente konstituieren auch erwachsenenpädagogische Situationen. So wird der Lehr-Lern-Zusammenhang auch dann als eine autoritätsstrukturierte Situation aufgefasst, wenn Lehransprüche professionell zurückhaltend artikuliert und teilnehmerorientiert ein didaktisch offenes Vorgehen zu realisieren versucht wird (Teilnehmerorientierung). Übersehen wird dabei oft, dass solche Absichten emotionale Strukturbesonderheiten mobilisieren können, die ambivalent auf Autorität eingestellt sind. Didaktische Autorität, die auf Abwehr oder Widerstand stößt, muss weder das eine noch das andere ausschließlich dem eigenen Stil zuschreiben; dieser triggert vielmehr – individuelle – emotionale Erinnerungen. Zudem wird Autorität von den Teilnehmenden auch erwartet und den Kursleitenden auch bisweilen geradezu abgenötigt, während man gleichzeitig die mit Autoritätserleben aufseiten der Teilnehmenden bildungstheoretisch verbundenen Erinnerungen oder gar Traumatisierungen meiden und selbstgesteuert handeln möchte.

Solche ambivalenten Tendenzen sind unbewusst in der Person früh angebahnt (Sozialisation). In ihnen rekonstellieren sich die frühen Erfahrungen im Umgang mit Gesehenwerden und dem, was das Subjekt dafür mit welcher Anstrengung und Verbiegung zu tun gelernt hat. Diese früh gelernten Programme kommen im späteren Leben häufig nicht mehr zur Ruhe; sie werden auch in strukturähnlichen Situationen aktiviert. Diese gibt es auch in der Erwachsenenbildung: Sie sind bspw. dann gegeben, wenn Teilnehmende einen verzweifelten Machtkampf gegen die Vorschläge und Vorgaben der oder des Kursleitenden führen oder wenn Kursleitende überwertig auf den Eigensinn bzw. (Lern-)Widerstand der Teilnehmenden reagieren.

Diese Hinweise verdeutlichen, dass auch in der Erwachsenenbildung zahlreiche Verhaltens- und Interaktionsformen bisweilen wenig mit den konkreten Situationen zu tun haben, sondern in ihrem Kern und ihrem auch wesentlich von der Aktivierung eigener, früh erworbener Denk- und Fühlmuster bestimmt sind. Somit gibt es auch in der Erwachsenenbildung das emotionale Echo, d. h. die Dynamik und Handlungslogik des Geschehens ist von der inneren Logik des seelischen Überlebens- und Anerkennungskampfes der Beteiligten (mit-)bestimmt.

„Emotionale Kompetenz“ bezeichnet die Fähigkeiten, das eigene Echo im Gegenüber zu wissen und eigene Rekonstellierungen wahrnehmen und vermeiden zu können. Wer über e. K. verfügt, ist in der Lage, die eigenen Denk- und Gefühlsprogramme in ihrem Entstehen unmittelbar erkennen und möglichst genau beobachten zu können, wie diese dabei mitwirken, das Bild von der Wirklichkeit entstehen zu lassen, welches dem eigenen Denken, Fühlen und Handeln Orientierung gibt. Diese bevorzugten Weisen, die Welt zu denken und zu fühlen, können nicht einfach abgestreift werden. Man kann aber zum Regisseur der eigenen Wahrnehmung werden, wenn man auch eine autonome Haltung gegenüber dem hat, was man an sich heranlässt, und dem, was man nicht entwickeln konnte. E. K. bedarf nicht nur einer gewissen Autonomie gegenüber den eigenen Denk- und Fühlroutinen, die das, was einem der Fall zu sein scheint und die eigenen Reaktionen darauf leitet, sie bedarf auch einer gewissen Zugeknöpftheit gegenüber den sich aufdrängenden Inanspruchnahmen durch das Außen. Wenn man sich darin übt zu verhindern, dass die eigenen „unbewussten Denkmuster zu unseren unbewussten Seinsmustern“ (Dispenza, 2016, S. 67) werden, kann man allmählich zu einem bewussteren Umgang mit sich selbst und der Welt gelangen. Man ist dann nicht länger okkupiert und festgelegt durch die in einem selbst und in Kontakt mit anderen aufscheinenden endlosen Wiederholung des Bekannten, sondern kann mehr und mehr „die Oberhand über die alten Denkmuster“ (ebd., S. 71) gewinnen.

Kontrolle abzugeben, Stille zu üben, Potenziale und Bewegungen von Lernenden zu spüren und auch schweigen zu können, markieren den Kern einer emotionalen K. Indem es Erwachsenenpädagoginnen und -pädagogen immer besser gelingt, vielsagend zu schweigen und sich mehr in einem beobachtenden als einem rasch beurteilenden und schlussfolgernden Modus zu bewegen, öffnen sie sich gegenüber Neuem, Überraschendem und Ungewohntem. Dabei werden neue Lesarten altvertrauter Gemengelagen möglich, und eine adäquate bzw. vielfältige Deutung dessen, was sich verändert oder vielleicht von Anfang an ganz anders gewesen ist, kann entstehen. Diese Bewegung bringt eine erkenntnistheoretische Substanz zum Ausdruck. Angewandte „Epistemologie“ lautet der Fachbegriff zur Kennzeichnung dieser auf sich selbst zurückweisenden Fokussierung, welche dem Hinweis von Varela, Thompson und Rosch (1992, S. 57) folgt: „Wir erkennen vieles, aber wir erkennen nicht, wie wir erkennen. Das ist der Haken.“ Um dieses Manko auszugleichen, rückten Varela, Thompson und Rosch eine reflexive Annäherungsweise an die Außen- und Gegenüberwelt in den Blick, wie sie der buddhistischen Philosophie, welcher Varela sich in den letzten Jahren seines Lebens in starkem Maße zuwandte, sehr vertraut ist. Die leitende Frage einer solchen „selbsteinschließenden“ – weil nicht die Welt, sondern die eigene Sicht auf die Welt fokussierenden – Bewegung ist dabei die nach der eigenen Erinnerung (Gedächtnis), welche das erlebte, beobachtete und beurteilte Geschehen dem Verantwortlichen (z. B. Führungskraft, Begleitende, Beratende) selbst – über sich! – in Erinnerung ruft, um dieses gewissermaßen von dem, was einem der Fall zu sein scheint, in Abzug zu bringen (Bewusstsein; Selbsterfahrung – Bewusstseinsbildung).

Die eigene e. K. erweitert man in Situationen, in denen man sich den prägenden Erfahrungen (z. B. der Atmosphäre des eigenen Kinderzimmers) und den signifikanten Bezugspersonen gezielt zuwendet, um das Erlebte nochmals neu zu durchspüren. Dadurch kann es gelingen, bisherige Festlegungen und starre Muster aufzulösen – z. B. durch die tiefe Einsicht, dass diese dereinst so waren, wie sie gewesen sind und vielleicht auch wichtige Unterstützung geleistet haben, für die es aber jetzt keinen Bedarf mehr gibt. Auf diese Weise „dürfen“ eine neue Sicht der Dinge, ein Umdeuten oder gar eine neue Form des Umgangs erprobt und geübt werden – ein Schritt, zu dem die Akteure sich bloß selbst die Erlaubnis geben können.

Dieser innere Weg ist mit Kränkungen gepflastert, denen die Akteure sich meist nicht wirklich stellen wollen, obwohl kein Weg an ihnen vorbeiführt, wenn sie nicht im „Repeat-Modus“ verharren wollen, um zu bleiben, wie sie sind:

  • Die erste Kränkung ist die ernüchternde Einsicht, dass es kein sicheres Wissen und schon gar kein Bescheidwissen geben kann. Menschen verfügen in den grundlegenden Fragen der eigenen Identität und des sozialen Handelns meist über keinen Zugang zu dem, wie die Gegebenheiten tatsächlich sind. Dies gilt insb. für die Bezeichnung von Ursachen einer (im Gegenüber) beobachteten Wirkung. Alles, was ihnen da der Fall zu sein scheint, stellt die Rückverwiesenheit der Erkenntnis auf sich selbst („Selbstreferenzialität“) infrage.
  • Die zweite Kränkung entspringt der vollständigen Lösung von Ursachen- und Schuldzuschreibungen: Wenn es stimmt, dass sich die eigenen „Eindrücke“ von einer Gegebenheit oder den Akteuren überwiegend aus eigenen Erfahrungen „speisen“, dann können die Akteure nicht länger weitermachen wie bisher, sondern müssen lernen, ihrer Wahrnehmung produktiv zu misstrauen.
  • Die dritte Kränkung schließlich ist fundamental. Sie betrifft die grundlegende Haltung gegenüber den eigenen Formen der Wahrnehmung: Die alles entscheidende Frage ist in diesem Zusammenhang, ob es Erwachsenenpädagoginnen und -pädagogen im Alltag immer besser gelingt, sich in Interaktionen tatsächlich so zu verhalten, dass ihre Reaktionen glaubwürdig spürbar eine Relativierung ihrer eigenen Wahrnehmung ausdrücken. Denn diese liefert ihnen kein objektives Bild vom Gegenüber, sondern wiederbelebt auch eigene frühe Erinnerungen und routinisierte Erfahrungen. Deshalb können sie das jeweilige Gegenüber auch bloß so sehen, wie ihnen ihre Gefühle gewachsen sind. Um dieser Gegebenheit Rechnung zu tragen, bedarf es neuer – achtsamer – Formen des Ausdrucks und der Bezeichnung.

Literatur

Arnold, R. (2013). Systemische Erwachsenenbildung. Die transformierende Kraft des begleiteten Selbstlernens. Baltmannsweiler: Schneider.

Arnold, R., Nuissl, E. & Rohs, M. (2017). Erwachsenenbildung. Eine Einführung in Grundlagen, Probleme und Perspektiven. Baltmannsweiler: Schneider.

Arnold, R. & Siebert, H. (2006). Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Von der Deutung zur Konstruktion der Wirklichkeit (5., unveränd. Neuaufl.). Baltmannsweiler: Schneider.

Dispenza, J. (2016). Schöpfer der Wirklichkeit. Der Mensch und sein Gehirn – Wunderwerk der Evolution (5. Aufl.). Burgrain: KOHA.

Gieseke, W. (2012). Emotionen als beziehungsstiftender Wirkungszusammenhang für lebenslanges Lernen. In W. Gieseke, E. Nuissl & I. Schüßler (Hrsg.), Reflexion zur Selbstbildung. Festschrift für Rolf Arnold (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 22, S. 59–80). Bielefeld: wbv Publikation.

Varela, F. J., Thompson, E. & Rosch, E. (1992). Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Die Beziehung von Ich und Welt in der Kognitionswissenschaft – der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung. Bern (CH): Scherz.

Ehrenamt
Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters