Biografie

Peter Alheit

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-045

Das, was wir gewöhnlich unter B. (griech., Lebensbeschreibung) verstehen (ausführlich: Alheit & Dausien, 1990), ist nicht die schlichte Abfolge von Ereignissen des Lebens, sondern eine in wesentlichen Teilen vorgegebene soziale Orientierungsstruktur, die von einem Individuum sinnhaft verarbeitet und angeeignet werden muss. Dazu gehören Aspekte der Verzeitlichung und Chronologisierung (Zeit): Eine B. verläuft in verschiedenen Phasen, und diese Phasen folgen im Wesentlichen dem chronologischen Lebensalter. Sie begründen eine Art Orientierungsmuster, das als „Normalbiografie“ bezeichnet werden kann. I. d. R. sprechen wir hier von Lebenslauf.

Diese Beobachtung bedeutet nicht, dass alle Menschen auch eine solche Standardbiografie leben. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass es für bestimmte soziale Gruppen charakteristische Abweichungen gibt und dass sich durch gesellschaftliche Veränderungen sogar die Standards selbst verschieben (sozialer Wandel). Entscheidend bleibt allerdings die orientierende Funktion des „Normallebenslaufs“ (Fischer & Kohli, 1987). Menschen haben, selbst bei der Erfahrung drastischer Abweichung und Destandardisierung, eine Idee davon, wie ihr Leben (eigentlich) funktionieren müsste. Sie sind auf ein Sequenzraster angewiesen, mit dem sie ihr tatsächliches Leben mehr oder weniger erfolgreich synchronisieren müssen.

Allerdings vermögen solche wichtigen biografischen Normalschemata nicht sämtliche in einer konkreten B. auftretenden Optionen zu antizipieren. Es bleibt eine Fülle von Handlungsalternativen, über die Individuen selbst zu entscheiden haben: ethische und soziale Präferenzen, klassische Karriereziele, auch bewusste Antikarrieren. Eine B. enthält also beides: Struktur und Emergenz, vorgegebene Muster und individuell-spontane Gestaltungselemente (Individualisierung). Schon auf der Ebene des konkreten Handelns und nicht nachträglich durch theoretische Rekonstruktion werden somit die beiden wesentlichen Problemaspekte jeder wissenschaftlichen Deutung der Sozialwelt integriert: die Subjekt- und die Objektperspektive.

Die immer neuen Anstrengungen des Subjekts, die nötig sind, um eine individuelle B. zu entfalten, scheinen auf verborgene Strukturen angewiesen zu sein. Individuen machen konkrete Erfahrungen, die sie wiederum zu sinnvollem Tun und Handeln befähigen. Beim „Erfahrungen machen“ handelt es sich um keinen selbstverständlichen Vorgang. Menschen machen nicht jede denkbare Erfahrung; und die Erfahrungen, die sie machen, sind ihre eigenen Erfahrungen (biografisches Lernen). Das heißt, ihre konkrete B. begrenzt räumlich und zeitlich das tatsächlich akkumulierte Erfahrungswissen – räumlich, weil der soziale Raum, in dem sie Erfahrungen machen, wesentlich determiniert ist (­Pierre Bourdieu), zeitlich, weil eine B. endlich ist und auf eine konkrete Periode in der historischen Zeit festgelegt bleibt. Sich dies bewusst zu machen, bedarf der „biografischen Arbeit“, einem Bildungsprozess, der für die spätmoderne Erwachsenen- und Weiterbildung eine zentrale Herausforderung darstellt (Dausien & Rothe, 2005).

Theoretisch interessant sind dabei zwei Aspekte: Menschen machen ihre Erfahrungen immer auf der Folie vorhandener Wissensstrukturen (Wissen). Es gibt keine Erfahrung „an sich“. Der menschliche Erfahrungsgewinn ist – wie Schütz und Luckmann (1979, S. 85) sagen – „biografisch artikuliert“. Andererseits bleibt die Struktur ihres biografischen Wissens von der Gegenwartsperspektive abhängig. Die Emergenz der aktuellen Erfahrung revidiert unter Umständen gewachsene Strukturen. So ist eine B. als Ort subjektiver Erfahrung in der Zeit ein Beispiel für die Dialektik sozialen Lebens: Der Begriff steht einerseits für die je individuelle, aber darum nicht im geringsten zufällige Struktur impliziten Wissens; er repräsentiert andererseits die Emergenz lebendiger Erfahrung in der Gegenwart, die biografische Vergangenheit womöglich in neuem Lichte erscheinen lässt und biografische Zukunft offenhält.

Literatur

Alheit, P. & Dausien, B. (1990). Biographie. In H. J. Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften (Bd. 1, S. 405–418). Hamburg: Meiner.

Dausien, B. & Rothe, D. (2005). Biographiearbeit. Entwicklung eines innovativen Fortbildungskonzepts. Forschungsbericht. Berlin: AG Betriebliche Weiterbildungsforschung e. V.

Fischer, W. & Kohli, M. (1987). Biographieforschung. In W. Voges (Hrsg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung (S. 25–49). Opladen: Leske + Budrich.

Schütz, A. & Luckmann, T. (1979). Strukturen der Lebenswelt (Bd. 1). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Bildungsurlaub
Biografisches Lernen