Bildungsforschung

Josef Schrader

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-037

Der Begriff B. umfasst alle Forschungsaktivitäten, die sich mit den Voraussetzungen, den Verläufen und den Ergebnissen von Lern- und Bildungsprozessen im Lebenslauf befassen, unabhängig davon, ob sie pädagogisch begleitet werden oder sich in der Lebens- und Arbeitswelt vollziehen (z. B. Prenzel, 2005, S. 12, in Anl. an den Deutschen Bildungsrat). In einem weiteren Sinne lassen sich unter B. auch philosophische und theoretische sowie historische und vergleichende Studien subsumieren; in einem engeren Sinne wird B. heute zumeist mit „empirischer Forschung“ gleichgesetzt. Als empirisch gilt eine Forschung dann, wenn sie theoretische Aussagen systematisch und intersubjektiv nachvollziehbar mit erfahrungswissenschaftlichen Verfahren (Forschungsmethoden) prüft oder begründet (ebd.).

In Deutschland vollzog sich eine erste „empirische Wendung“ (Heinrich Roth) seit den 1950er Jahren, die sich von den hermeneutischen Traditionen geisteswissenschaftlicher Pädagogik abgrenzte. Die 1990er Jahre brachten eine zweite empirische Wende, die durch international vergleichende Large-Scale-Studien wie TIMSS und PISA angestoßen wurde (Large Scale Assessments). In der Folge dieser Studien geriet die erziehungswissenschaftliche Forschung auf nationaler wie internationaler Ebene unter Legitimationsdruck, der durch kritische Evaluationen ihrer Leistungen in der Forschung und in der Unterstützung von Politik und Praxis erhärtet wurde. Im Rahmen eines von der Politik forcierten Programms evidenzbasierter Bildungsreform (Bildungsreformen) hat die empirische B. eine bis dahin ungekannte Aufmerksamkeit gefunden, in Deutschland unterstützt durch eine umfangreiche Förderung durch Ministerien und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Der Bedeutungsgewinn empirischer B. hat seinen Ausdruck in der Besetzung von Professuren, der Herausgabe von Handbüchern und der Gründung einer eigenen Fachgesellschaft gefunden.

Empirische B. ist ein multidisziplinäres Forschungsfeld, mit Bezügen zur Erziehungswissenschaft und Psychologie, wie auch zur Soziologie, Politikwissenschaft (politikwissenschaftliche Bildungsforschung), Ökonomie (Bildungsökonomie), Philosophie und Geschichtswissenschaft. Tippelt und Schmidt-Hertha (2016) begreifen die Erziehungswissenschaft als zentrale Bezugsdisziplin (Bezugswissenschaften). Erziehungswissenschaftliche B. hat Schwerpunkte u. a. in der Biografieforschung (Biografie) und der didaktisch orientierten Lehr-Lern-Forschung. In der psychologisch ausgerichteten B. stehen u. a. Fragen der Kompetenzerfassung, der Unterrichtsqualität (Unterricht) und der Professionalisierung im Vordergrund. Die soziologisch orientierte B. beschäftigt sich insb. mit Fragen der sozialen Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung im Lebenslauf, zumeist auf der Basis von Kohortenvergleichen. Die ökonomische B. hat ihren Schwerpunkt in der Analyse monetärer und nicht-monetärer Erträge der Bildungsbeteiligung für Individuen, gelegentlich auch für Organisationen und Gesellschaften (Erträge von Erwachsenen- und Weiterbildung).

Auf internationaler Ebene setzten sich Kernbestandteile einer erziehungswissenschaftlichen empirischen B. durch, die unabhängig von methodischen Präferenzen Anerkennung gefunden haben. Fokussiert wird dabei eine Forschung mit für die Praxis bedeutsamen Fragestellungen, die empirisch untersucht werden können, sich auf relevante Theorien stützen und Forschungsmethoden anwenden, die die direkte Untersuchung der theoretisch fundierten Fragen erlauben. Der Anspruch ist, dass sie – wie jede Forschung – kohärente und explizite Argumentationsketten unterstützt, dass ihre Befunde replizierbar sind und Forschungsdaten und Methoden für professionelle Kritik offengelegt werden. Besonderheiten erziehungswissenschaftlicher Forschung bestehen in der multidisziplinären Behandlung pädagogischer Fragen (Interdisziplinarität), in ethischen Verpflichtungen (Ethik) gegenüber den Untersuchungsteilnehmenden sowie in der Notwendigkeit einer Partnerschaft mit der pädagogischen Praxis (Shavelson & ­Towne, 2002, S. 50ff.).

Die empirische Wende der Erziehungswissenschaft erfasste auch die Erwachsenenbildung in Deutschland. Erste Voten finden sich bereits in der Weimarer Zeit, ausgehend von der Deutschen Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung, später von Hans Tietgens als Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle (PAS) des Deutschen Volkshochschul-Verbands (DVV), prominenter im Forschungsmemorandum der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) aus dem Jahr 2000. In den 1950er Jahren wurden erste große bildungssoziologische Studien zum Zusammenhang von sozialer Lage und Bildungsbeteiligung Erwachsener durchgeführt (Bildungs­soziologie). Einen Auftrieb erhielt die empirische Forschungsausrichtung mit der Etablie­rung von Professuren für Erwachsenenbildung an Hochschulen. Inzwischen basieren die meisten Qualifikationsarbeiten auf empirischer Forschung. Die Forschungsschwerpunkte sind vielfältig und, anders als in anderen Teildisziplinen, noch wenig konturiert, sodass es noch an der Kumulation von Wissen mangelt. Methodisch wird überwiegend qualitativ gearbeitet, wie dies auch auf internationaler Ebene zu beobachten ist (internationale Forschung zur Erwachsenen- und Weiterbildung).

Literatur

Baumert, J. & Tillmann, K.-J. (Hrsg.). (2016). Empirische Bildungsforschung. Der kritische Blick und die Antwort auf die Kritiker (Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 31). Wiesbaden: Springer VS.

Prenzel, M. (2005). Zur Situation der Empirischen Bildungsforschung. In H. Mandl & B. Kopp (Hrsg.), Impulse für die Bildungsforschung. Dokumentation eines Expertengesprächs (hrsg. v. d. Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 7–21). Berlin: Akademie Verlag.

Shavelson, R. J. & Towne, L. (Eds.). (2002). Scientific research in education (Committee on Scientific Principles for Education Research). Washington, DC (US): National Academy Press.

Schrader, J., Hasselhorn, M., Hetfleisch, P. & Goeze, A. (2020). Stichwortbeitrag Implementationsforschung: Wie Wissenschaft zu Verbesserungen im Bildungssystem beitragen kann. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 23(1), 9–59.

Tippelt, R. & Schmidt-Hertha, B. (Hrsg.). (2018). Handbuch Bildungsforschung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 4., überarb. u. akt. Aufl., 2 Bde.). Wiesbaden: Springer VS.

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