Josef Schrader & Erhard Schlutz †
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-034
B. und A. gehören zu jenen pädagogischen Begriffen, die sowohl in der Wissenschaft als auch in Praxis und Politik Verwendung finden, wenngleich in oft unterschiedlicher Bedeutung. B. bezeichnet in den klassischen Bildungstheorien den Prozess, das Ziel und das Ergebnis der Kräftebildung, der Selbstentfaltung und der Selbstverwirklichung jedes Menschen in Auseinandersetzung mit der Welt (→ Persönlichkeitsbildung). B. wird zumeist von Erziehung (durch andere) abgegrenzt. In der Alltagssprache wird B. für alle Erscheinungen, die mit individuellen Lernprozessen oder den sie stützenden Institutionen zu tun haben (Bildungswesen, Weiterbildung, Bildungspolitik), genutzt. Der Begriff der A. oder, oft synonym, der „allgemeinen B.“ bringt die Vorstellung einer lebenstauglichen Ausstattung des Individuums mit Kenntnissen, Fähigkeiten und → Kompetenzen zum Ausdruck, die nicht speziell (z. B. nur für den Beruf) bedeutsam sind.
B. und A. gewinnen mit der Freisetzung der Individuen aus traditionalen → Gesellschaften, in Westeuropa seit Ende des 18. Jh., historisch Bedeutung. Schon die ersten Entwürfe zum Bildungsbegriff enthalten das Attribut „allgemein“. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835) verstehen unter B. „allgemeine Menschenbildung“, d. h. die B. zum Menschen durch dafür nötige basale Fähigkeiten. „Spezielle Bildung“, also Standesbildung und die damit verbundene berufliche Bildung (→ Berufsbildung), soll nach Humboldt den „Schulen des Lebens“ überlassen werden. Lernen für den Beruf konnte auch deshalb nicht zur allgemeinen Menschenbildung beitragen, weil es nur als Anwenden, Anlernen und Anpassung gedacht wurde, nicht aber als selbstständiges Lernen durch Einsicht in Gründe.
Eine in dieser Weise kanonisierte und zugleich universelle Vorstellung von allgemeiner B., wie sie prototypisch der Lehrplan (→ Curriculum) des humanistischen Gymnasiums versprach, wurde spätestens seit dem Ende des 19. Jh. fragwürdig: aufgrund der sozialen Selektivität der Institutionen allgemeiner B. bspw. für untere soziale Schichten oder für Mädchen; aufgrund der zunehmenden kulturellen Vielfalt, die die alleinige Orientierung an einer nationalen Hochkultur, wie sie von Bildungs- und Besitzbürgertum gepflegt wurde, obsolet erscheinen ließ, zumal dann, wenn sie dem Interesse an sozialer Distinktion oder Abgrenzung folgte; aufgrund des exponentiellen Wachstums des (wissenschaftlichen) → Wissens, das jede Form der Kanonbildung beliebig erscheinen ließ. Schließlich hat die → Institutionalisierung beruflicher Bildung spätestens zu Beginn des 20. Jh. die Frage aufgeworfen, ob der Weg zu einer höheren (nicht nur basalen) A. nicht allein über den Beruf möglich sei (Eduard Spranger).
Dass überlieferte Vorstellungen von B. und A. fragwürdig wurden, macht allerdings die damit adressierten Fragestellungen nicht obsolet. Vielmehr scheint der Bildungsbegriff Teil einer pädagogia perennis, in der auf die „ewigen“ Fragen von B. und Erziehung historisch immer neue Antworten gesucht werden (müssen). Dies zeigt sich u. a. an der trotz mancher Konjunkturen ungebrochenen Präsenz der Begriffe. Offenbar benötigen alle, die mit Bildungsfragen beschäftigt sind, eine „regulative Idee“, um Antworten auf die sich immer wieder neu stellenden Fragen nach dem Verhältnis von individueller Entfaltung und gesellschaftlicher Integration, nach einer Ausbalancierung von individueller und sozialer → Identität zu finden (Tenorth, 2020).
Gestützt auf die geisteswissenschaftliche Tradition hat Klafki (1985) einen vielbeachteten Vorschlag gemacht, die Bildungsidee der Klassik auf Schlüsselprobleme der modernen Welt zu beziehen. Er arbeitete drei Forderungen bzw. Erwartungen an allgemeine B. heraus, die bereits in den klassischen Bildungstheorien enthalten sind und die die damit gemeinte Aufgabe zugleich als nach wie vor bedeutsam erscheinen lassen: (1) die B. aller Kräfte des Einzelnen (Vielseitigkeit, formale B.), (2) die B. für alle (Chancengleichheit) sowie (3) eine B. am Gemeinsamen oder Allgemeingültigen (materiale B.), für Klafki am ehesten realisierbar in einem gesamtschulischen Bildungssystem.
Tenorth (1994) dagegen hat vorgeschlagen, A. auf elementare Grundkenntnisse und auf die Kultivierung von Lernfähigkeit zu begrenzen. Ein solches Bildungsminimum definiert einen Kern an Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) und Grundkenntnissen, die Gesellschaft und Wirtschaft von Schulabgängerinnen und -abgängern tatsächlich erwarten bzw. den diese mindestens brauchen, um in ihrer Kultur bestehen zu können. Grundbildung (→ Alphabetisierung – Grundbildung) in diesem Sinne, so ließe sich ergänzen, wird zu einer lebenslangen Aufgabe in Gesellschaften, die Illiteralität (→ Literalität – Numeralität) nicht überwunden haben und Zuwanderung (→ Migration) dauerhaft erwarten.
Mit dem Begriff der → Schlüsselqualifikationen, für das Feld der Weiterbildung entwickelt, wurde versucht, solche formalen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu identifizieren, die alternative Optionen für eine große Zahl von Aufgaben, Rollen und Positionen ermöglichen und eine unvorhersehbare Folge von Anforderungen im Laufe des Lebens bewältigen helfen. Dieser Gedanke, zuerst Anfang der 1970er Jahre von Dieter Mertens vorgetragen, lebt heute in Varianten des Kompetenzbegriffs fort. Schließlich hat Gieseke (1998) eine politische Konsenssuche und -setzung nach A. als „Bürgerbildung“ gefordert. Kriterien dafür seien nicht einer Bildungstheorie zu entnehmen, sondern sollten aus dem Interesse aller an Partizipation, v. a. an politischer Mitbestimmung begründet werden.
Die Erwachsenenbildung hat sich in ihrer Geschichte immer wieder auf bildungstheoretische Debatten und Konzepte bezogen, trotz ihrer oft betonten Distanz zur schulischen B. Während sich die einen für eine → Popularisierung von Wissenschaft durch Universitäten einsetzten, votierten andere (z. B. in der Neuen Richtung der Weimarer Republik) für eine am Alltagsleben (→ Alltag) orientierte Laien- und Volksbildung, wie Wilhelm Flitner sie konzipiert hatte. In der Nachkriegsgeschichte hat das Gutachten „Zur Situation und Aufgabe der deutschen Erwachsenenbildung“ aus dem Jahr 1960 des → Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen große Beachtung gefunden, in dem B. –
in der Tradition der → Aufklärung – als ständiges Bemühen definiert wurde, sich selbst, die Gesellschaft und die Welt zu verstehen und diesem Verständnis gemäß zu handeln.
Zur → Geschichte der Erwachsenenbildung gehören aber auch Distanzierungen von einem „Bildungsidealismus“, wie er u. a. in Teilen der Weimarer Tradition gepflegt wurde. Nach dem Ende der idealistischen Philosophie müsse jede Bildungstheorie vom geschichtlichen und gesellschaftlichen Charakter des Menschen ausgehen, so die Grundannahme des großen, in den 1950er Jahren begonnenen Forschungsvorhabens „Bildung und gesellschaftliches Bewusstsein“ (Göttinger Studie) von Willy Strzelewicz, Hans-D. Raapke und Wolfgang Schulenberg (→ Leitstudien). Die Befunde dieser Studie haben gezeigt, wie man realistisch gesellschaftliche Vorstellungen von B. erforschen, deren primäre Zweckorientierung (→ Qualifikation) aufweisen und dahinter doch eine Hoffnung auf mehr Entfaltung zum Vorschein bringen kann. Erkenntnisse bildungssoziologischer Studien (→ Bildungssoziologie) wurden genutzt, um eine „realistische Wende“ der Erwachsenenbildung einzufordern, die die Angebote der Erwachsenenbildung an den Lebens- (→ Lebenswelt) und Arbeitssituationen (→ Arbeit) ihrer Adressatinnen und Adressaten ausrichtet (z. B. Tietgens, 1981).
Vor diesem Hintergrund lag es nahe, begrifflich zwischen allgemeiner, politischer und → beruflicher Weiterbildung zu unterscheiden und zugleich nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Synthese zu fragen. Dies bot sich auch deshalb an, weil diese Unterscheidungen auch rechtlich differente Zuständigkeiten von Bund und Ländern spiegelten und zudem in die → Bildungsberichterstattung („Berichtssystem Weiterbildung (BSW)“) Eingang fanden.
Sieht man genauer hin, so entspricht allerdings allgemeine Weiterbildung nicht ungebrochen einem Verständnis von A. im ursprünglichen Sinn. Als allgemeine Weiterbildung werden i. d. R. solche Angebotsbereiche zusammengefasst, die für allgemein oder grundlegend gehalten werden. Programmanalysen (→ Programmforschung) haben folgende Segmente und Funktionen der allgemeinen Weiterbildung unterschieden, die teils an die Inhalte des allgemeinbildenden Schulwesens anschließen, teils darüber hinausgehen (Schlutz & Schrader, 1999): (1) Grundbildung (u. a. Alphabetisierung, Schulabschlüsse); (2) Kommunikations- und Schlüsselkompetenzen (einschließlich → Fremdsprachen); (3) Allgemeinwissen und Alltagskompetenzen; (4) → politische Bildung. Diagnostiziert wurden ein „Kurssturz der klassischen Wissensvermittlung“ und des klassischen Bildungswissens sowie ein Nachfrageboom nach Verständigung und Können für einen komplexer werdenden Alltag (Schlutz, 2002). So interpretiert, stellt allgemeine Weiterbildung in der Praxis keineswegs eine Restgröße dar, sondern wird so häufig nachgefragt wie berufliche Weiterbildung (Schrader, 2019). Auch in jüngeren Debatten wird immer wieder auf die Begriffe B. und A. Bezug genommen – z. B. dann, wenn Bildungs- oder Weiterbildungsarmut beklagt oder Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen B. und angloamerikanischen Konzepten des Transformative Learning (→ transformative Erwachsenenbildung) ausgelotet werden.
Welchen Beitrag Erwachsenenbildung zur B. Erwachsener leistet, wurde noch kaum untersucht (Schrader, 2015). Die empirische Forschung hat sich auf → Erträge von Erwachsenen- und Weiterbildung wie Arbeitsplatzsicherheit, Karriere, Einkommen, gesundheitliches Wohlbefinden oder zivilgesellschaftliches Engagement konzentriert, ohne dabei systematisch zwischen Segmenten und Angebotsbereichen zu unterscheiden. Zwar wurden früh interaktionistische Ansätze aufgegriffen (→ symbolischer Interaktionismus), die die Sprachabhängigkeit (→ Sprache – Fachsprache) von B. betont haben, z. B. beim auslegenden Verstehen (Tietgens, 1981) und in der Verständigung (Schlutz, 1984), sodass zugleich an die Untrennbarkeit von individuellen und sozialen Faktoren im Bildungsprozess erinnert wurde. Doch die empirische → Lehr-Lern-Forschung hat diese Anregungen noch nicht aufgenommen. Die Biografieforschung (→ Biografie) schließlich hat die → Autonomie der Individuen bei der Aneignung von Angeboten der Erwachsenenbildung betont. Zur Lebenslaufforschung (→ Lebenslauf) dagegen besteht bislang noch keine Verbindung. Dabei könnte auf der Basis vorhandener längsschnittlicher Daten (z. B. im Nationalen Bildungspanel) untersucht werden, ob Weiterbildung in allgemeiner oder spezifischer Form dazu beiträgt, den Individuen Wahlmöglichkeiten zu eröffnen (Cortina, 2016) und sie in die Lage zu versetzen, in einer von Unbestimmtheit und Unsicherheit geprägten Welt vernünftig zu handeln. Zugleich ließe sich fragen, ob die Individuen Lern- und Bildungsprozesse als geglückt oder als erzwungen interpretieren. Es bleibt die Aufgabe, empirisch zu prüfen, ob Begriffe wie B. und A. weiterhin Leitkategorien sein können, mit deren Hilfe Ziele und Prozesse des → Lernens gehaltvoll beschrieben und begründet werden können.
Literatur
Cortina, K. S. (2016). Kompetenz, Bildung und Literalität. Anmerkungen zum Unbehagen der Pädagogik mit zentralen Konzepten der empirischen Bildungsforschung. In S. Blömeke, S. et al. (Hrsg.). Traditionen und Zukünfte. Beiträge zum 24. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (S. 29–42). Opladen: Barbara Budrich.
Gieseke, H. (1998). Pädagogische Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Stuttgart: Klett.
Klafki, W. (1985). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz.
Schlutz, E. (1984). Sprache, Bildung und Verständigung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
Schlutz, E. (2002). Alltagskompetenz statt Bildungswissen? Zur Empirie des Allgemeinwissens in der
Erwachsenenbildung. In K. Künzel (Hrsg.), Allgemeinbildung zwischen Postmoderne und Bürgergesellschaft. Köln: Böhlau.
Schlutz, E. & Schrader, J. (1999). Veränderungen im Angebot diesseits und jenseits von Arbeit. In
R. Arnold & W. Gieseke (Hrsg.), Weiterbildungsgesellschaft (Bd. 2, S. 27–44). Neuwied: Luchterhand.
Schrader, J. (2015). Large Scale Assessments und die Bildung Erwachsener. Erträge, Grenzen und Potenziale der Forschung. Zeitschrift für Pädagogik, 61(3), 410–428.
Schrader, J. (2019). Institutionelle Rahmenbedingungen, Anbieter, Angebote und Lehr-Lernprozesse der Erwachsenen- und Weiterbildung. In O. Köller, M. Hasselhorn, F. W. Hesse, K. Maaz, J. Schrader, H. Solga, C. K. Spieß & K. Zimmer (Hrsg.), Das Bildungswesen in Deutschland: Bestand und Potenziale (S. 701–730). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
Tenorth, H.-E. (1994). „Alle alles zu lehren“. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Tenorth, H.-E. (2020). Die Rede von Bildung. Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz. Wiesbaden: Springer.
Tietgens, H. (1981). Die Erwachsenenbildung. München: Juventa.