Berufsbildung

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-029

Der Gegensatz von Allgemeinbildung (Bildung – Allgemeinbildung) und B. ist für das gesamte Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland, aber auch für andere europäische und außereuropäische Länder in vielfältiger Weise strukturprägend. Er konstituiert nicht nur eine Hierarchie der Inhalte, sondern auch eine der Lebenschancen: Allgemeinbildung und B. werden heute immer noch nicht als gleichwertige Bildungsformen angesehen und dementsprechend von der Gesellschaft nicht gleichermaßen mit sozialen Aufstiegschancen honoriert (Anerkennung, gesellschaftliche – personale). Ansehen und gesellschaftliche Aufstiegschancen erwirbt man sich durch allgemeine, nicht durch berufliche Bildung – ein Sachverhalt, der bereits von August Bebel in den kämpferischen Slogan gefasst wurde: „Allgemeinbildung ist die Berufsbildung der Herrschenden – Berufsbildung ist die Allgemeinbildung der Beherrschten!“ Gleichwohl kann nicht übersehen werden, dass die europäische Kompetenzwende mit ihren Möglichkeiten der Zertifizierung der im Beruf erworbenen Kompetenzen (Kompetenzerfassung; Kompetenzmessung) sowie Förderprogramme wie Aufstieg durch Bildung die Härte der Bildungsselektion ansatzweise abmildern und die Durchlässigkeit zwischen berufsbildenden und allgemeinbildenden Wegen seit dem Beginn der 2000er Jahre spürbar erhöhen konnten.

Historische Grundlage für das überlieferte und immer noch fortwirkende Missverhältnis zwischen B. und Allgemeinbildung ist eine Bildungstheorie, der es zunächst und v. a. um die Entwicklung des Menschen zu seinem eigenen Zweck (Persönlichkeitsbildung) –
und nicht zu irgendeinem beruflichen oder ökonomischen Zweck – ging. Was der eigentliche Zweck des Menschen sei, wusste Wilhelm von Humboldt (1903 [1792]) in die ­Formel zu fassen: „Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportioni[e]rlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“ Aus diesen Überlegungen ergaben sich zwei für die weitere bildungspolitische Entwicklung folgenreiche Thesen: Die „Vorrangthese“ und die „Ausschlusstheorie“.

Die Vorrangthese geht davon aus, dass es Inhalte gibt, die gegenüber anderen eine größere Bedeutung für die Bildung des Subjekts haben. Humboldt sah diese Inhalte in der klassischen Antike, d. h. im Ideal des griechisch-römischen Menschen. Mehrsprachigkeit, historisches Bewusstsein, kulturelle Kommunikation und die damit verbundene Selbstreflexion und Selbstdistanzierung konstituierten ein Bildungsideal, das für den Neuhumanismus leitend wurde. Entsprechende Inhalte wurden im Fächerkanon des Humanistischen Gymnasiums kodifiziert, und Generationen von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten wurden in der lateinischen und griechischen Sprache und Kultur unterwiesen. Durch diesen Kontakt mit den „vollkommensten Reifungsperioden der abendländischen Zivilisation“ sollte die Erfahrung an die nachwachsende Generation vermittelt werden, „was Menschsein eigentlich bedeutet“ (ebd.). Vielfach erstarrte diese Intention allerdings in einem rückwärtsgewandten Bildungsidealismus, der in einen immer schärferen Widerspruch zu den Lern- und Reflexionsanforderungen der sich modernisierenden Gesellschaft geriet (Modernisierung).

Die Ausschlussthese des Neuhumanismus geht auf die Forderung Humboldts zurück, dass die B. der Allgemeinbildung nachfolgen müsse. „Was das Bedürfnis des Lebens oder des einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert und nach vollendetem, allgemeinbildendem Unterricht erworben werden“ (ebd.). Humboldt befürchtete, dass eine Vermischung beider Bildungsformen die Bildung „unrein“ werden ließe – eine Sichtweise, die der B. letztlich jegliche Bildungswirkung absprach und diese aus dem Bildungsanspruch ausschloss. Die Bildung des Subjekts – so das Fazit, aber auch die historisch folgenreiche Festlegung der neuhumanistischen Bildungstheorie – erfolgt vor und außerhalb beruflicher bzw. berufsorientierter Bildungsmaßnahmen. Spätere Gegenpositionen wie die von Eduard Spranger (1882–1963) mit seiner These, der Weg zur Bildung führe über den Beruf „und nur über den Beruf“, oder Georg Kerschensteiner (1854–1915) mit seinem Hinweis, „am Anfang der Menschenbildung steht die Berufsbildung“, hatten es schwer, in der Bildungsdebatte des frühen 20. Jh. Gehör zu finden oder sich gar durchzusetzen.

Diese bildungstheoretischen und bildungspraktischen Festlegungen führten dazu, dass auch in der Erwachsenen- und Weiterbildung das Verhältnis zur B. mehrfach gebrochen war. So finden sich weder in der Weimarer Republik noch im Nachkriegsdeutschland der 1950er und 1960er Jahre bahnbrechende Ansätze zu einer Integration der beruflichen Bildung in das Selbstverständnis und die Politik der Träger der Erwachsenenbildung. Und auch ihre als „realistische Wende“ bezeichnete Öffnung gegenüber den Anforderungen des Berufs- und Wirtschaftslebens führte nicht zu einer Neubestimmung des Bildungsgehalts und der möglichen Bildungswirkungen einer beruflichen Erwachsenenbildung. Zwar intensivierten die Träger in den 1970er und 1980er Jahren ihre diesbezüglichen Angebote, und auch der Deutsche Bildungsrat plädierte in dieser Zeit für eine „Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung“, doch konnte beides nicht zu einem theoretisch überzeugenden und curricular sowie institutionell realisierbaren Konzept entwickelt werden. Während der Bildungsrat für den Sekundarbereich sehr viel konkretere und auch überzeugendere Empfehlungen zur Integration vorlegte, knüpfte er in seiner Weiterbildungskonzeption eindeutig an das traditionelle, die berufliche Qualifizierung ausschließende Verständnis von Erwachsenenbildung an und unterzog die Inanspruchnahme von einzelnen Weiterbildungsaufgaben durch unterschiedliche Einrichtungen und Träger keiner Kritik. „[…] So bleibt die Forderung nach Integration für die Weiterbildungspraxis weitgehend Ausdruck der Verlegenheit“ (Dikau, 1981).

Abgesehen von punktuellen curricularen Integrationsversuchen (z. B. Bildungsurlaub) sowie institutionellen Kooperationsprojekten ist die Integration von Allgemeinbildung und B. im Bereich der Weiterbildung bis in die 1980er Jahre kaum vorangekommen. Zwar lässt sich ein Anwachsen beruflicher Weiterbildungsmaßnahmen feststellen, doch geht dies nicht mit einer konzeptionellen Integration einher: Auch die Erwachsenen­pädagogik folgte lange Zeit einem vornehmlich subjektorientierten Bildungsbegriff (Subjektorientierung), dessen Ausklammerungs- und Ausgrenzungshaltung im Hinblick auf das berufsorientierte Lernen im Kern noch neuhumanistisch ist. Anders stellt sich dies im Rahmen der beruflichen Ausbildung dar. Hier entwickelte sich vor dem Hintergrund veränderter Qualifikationsanforderungen (Qualifikation) ein erweitertes Verständnis von beruflicher Handlungskompetenz, das auch deutliche Bezüge zur Förderung der Persönlichkeitsbildung und der sozialen und methodischen Kompetenzen der Lernenden aufweist (Brater, 2020). Und auch die disruptiven Innovationen gingen mit einem deutlichen Schub in Richtung Persönlichkeitsbildung (Arnold, 2020) sowie „Kompetentes Unternehmen“ einher – Entwicklungen, die von nüchterner Beobachtung und frei von aller bildungstheoretischen Überladung getragen sind (ebd., 2018). Die Rede ist deshalb auch von einer Verallgemeinerung der B., wobei sich gleichzeitig eine methodenorientierte Sicht beruflicher Kompetenzentwicklung verbreitet, die von dem Bewusstsein durchdrungen ist, dass Bildung „mehr als Fachlichkeit“ (vbw, 2015) darstellt.

Der Kompetenzbegriff ersetzt seit den 1990er Jahren in der B. auch mehr und mehr den Berufsbegriff. Er bezeichnet die selbstorganisierte und sachgemäße Bewältigung neuartiger Probleme und die Gestaltung tragfähiger Problemlösungen. Dafür sind neben dem fachlichen Know-how auch Schlüsselqualifikationen wie die Fähigkeit zu selbstständigem Planen, Durchführen und Kontrollieren von Problemlösungen vonnöten. Für den Erwerb dieser Fähigkeiten sind neue Methoden erforderlich, die sich in mehrfacher Hinsicht von den traditionellen Lehrmethoden unterscheiden. Nicht mehr die möglichst exakte Vorplanung und „Erzeugung“ von Kompetenzen steht im Vordergrund, sondern subjektsensible „Ermöglichung“ individueller und organisationaler Lernprozesse. Hierzu werden handlungs- und lernfeldorientierte sowie selbstständigkeitsfördernde Berufsbildungsmethoden eingesetzt (handlungsorientierte Didaktik). Diese ermöglichen gleichzeitig inhaltsbezogene Aneignung und Stärkung von Ich-Kompetenzen, wie u. a. die Forschungen vom Brater (2020) zeigen.

Diese Entwicklungen in der beruflichen Erstausbildung machen deutlich, dass modernisierte B. heutzutage vieles von dem realisieren muss, was vormals der Allgemeinbildung vorbehalten zu sein schien (z. B. die „proportionierlichste Ausbildung aller Kräfte“). Gleichzeitig bildete sich dabei ein Verständnis beruflicher Kompetenzentwicklung heraus, welches die methodischen Kompetenzen der Lernenden ins Zentrum rückt und die Unterscheidung von beruflicher Erstausbildung und beruflicher Weiterbildung aufweicht. In heutigen modernisierten Arbeitszusammenhängen muss Weiterbildung die Mitarbeitenden immer weniger kontinuierlich an den Wandel anpassen; diese müssen vielmehr über Selbstlern- und Selbstqualifizierungsfähigkeiten (Selbstlernkompetenzen) verfügen, um sich dann durch selbstgesteuertes, lebenslanges Lernen (lifelong learning) an die neuen Anforderungen anzupassen, wenn diese auf sie zukommen. Eine solche methodenorientierte Kompetenzentwicklung zielt auf die Stärkung der Subjekte (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen). Diese müssen zwar, weil es externe, d. h. betriebliche Zwecke verlangen, entwickelt werden, doch dient ihre Entwicklung auch dem Einzelnen, denn selbststeuerungsfähige Mitarbeitende erhalten die Unternehmen nur um den Preis von kritischen Mitarbeitenden. Wir erleben demnach in der modernisierten Kompetenzentwicklung eine Abmilderung, wenn nicht gar eine Auflösung des Gegensatzes von Allgemeinbildung und B. Ihre Integration wird dabei paradoxerweise aus dem Bereich zweckorientierten beruflichen Handelns initiiert, weil die „Zwecke“ des modernen, hochkomplexen Wirtschaftens bereits vielerorts nur erfüllt werden können, wenn die handelnden Subjekte mehr können, als vorgegebene Zwecke zu erfüllen. Gleichwohl bedeutet diese Integration nicht, dass es nicht darüber hinaus auch – jenseits der beruflichen Zwecke – zentrale Kompetenzbereiche gibt, für deren Entwicklung gezielte Maßnahmen und Angebote gesellschaftlich notwendig sind. Nach Oskar Negt (1997) sind dies u. a. die Gerechtigkeitskompetenz, die ökologische Kompetenz (Nachhaltigkeit; Umweltbildung) und die historische Kompetenz (bei Letzterem geht es um Erinnerungs- und Utopiefähigkeit).

Als spezialisierte pädagogische Disziplin, die sich mit dem berufsorientierten und beruflichen Lernen befasst, hat sich im 20. Jh. die Berufspädagogik bzw. die Berufs- und Wirtschaftspädagogik herausgebildet. Mit dieser Differenzierung des Disziplinfokus öffnete sich die Pädagogik weit über ihre angestammten Themen (Kleinkind- und Schulpädagogik) hinaus und bezog auch verstärkt Bereiche der beruflichen Nachwuchsrekrutierung ein. Seit den 1980er Jahren wird darüber hinaus auch verstärkt der Bezug der Berufspädagogik zur Erwachsenenpädagogik thematisiert. Dies ist nicht überraschend, verschwimmen doch mit dem Trend zum lebenslangen Lernen zunehmend die etablierten Grenzziehungen zwischen Erstausbildung und Weiterbildung, während sich gleichzeitig mit dem gestiegenen Vorbildungsniveau der Auszubildenden im dualen System deren Durchschnittsalter erhöht und wir es heute in der B. mehrheitlich mit jungen Erwachsenen zu tun haben. Interdisziplinäre Konvergenzen im Verhältnis von Berufs- und Erwachsenenbildung sind unübersehbar (Interdisziplinarität).

Literatur

Arnold, R. (2018). Das kompetente Unternehmen. Pädagogische Professionalisierung als Unternehmensstrategie. Wiesbaden: Springer.

Arnold, R. (2020). Berufsbildung und Persönlichkeitsentwicklung in Zeiten disruptiver Innovationen. In R. Arnold, A. Lipsmeier & M. Rohs (Hrsg.), Handbuch Berufsbildung (3., völlig neu bearb. Aufl., S. 279–291). Wiesbaden: Springer.

Arnold, R., Gonon, P. & Müller, H.-J. (2016). Einführung in die Berufspädagogik (2., überarb. Aufl.). Opladen: Barbara Budrich.

Brater, M. (2020). Berufsbildung und Persönlichkeitsentwicklung in der historischen Dimension. In R. Arnold, A. Lipsmeier & M. Rohs (Hrsg.), Handbuch Berufsbildung (3., völlig neu bearb. Aufl., S. 3–14). Wiesbaden: Springer VS.

Dikau, J. (1981). Berufsbildung und Erwachsenenbildung. In F. Pöggeler & B. Wolterhoff (Hrsg.), Handbuch der Erwachsenenbildung (Bd. 8: Neue Theorien der Erwachsenenbildung, S. 27–45). Stuttgart: Kohlhammer.

Humboldt, W. von (1903 [1792]). Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. In A. Leitzmann (Hrsg.), Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften (Bd. 1: Gesammelte Schriften (1785–1795), S. 97–254). Berlin: De Gruyter.

Negt, O. (1997). Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen: Steidl.

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft. (2015). Bildung. Mehr als Fachlichkeit. Gutachten. Münster: Waxmann.

Berufliche Weiterbildung
Betriebliche Weiterbildung