Beratung im Kontext lebenslangen Lernens

Christiane Schiersmann

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-027

Die sich rasch wandelnde, komplexe Gesellschaft hat gravierende Folgen für die Lebensgestaltung ihrer Mitglieder: Normierte Lebensverläufe (Lebenslauf) verlieren an Bedeutung. Die Individuen stehen daher vor der Herausforderung, ihre jeweiligen Bildungs- und Berufsbiografien (Biografie) weitgehend individuell und in eigener Verantwortung zu gestalten (Individualisierung). Dies beginnt bei der Entscheidung über die Schullaufbahn, geht über die Wahl einer Berufsausbildung (Berufsbildung) oder eines Studiums bis zur Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung. Diese Entwicklung eröffnet einerseits Handlungsspielräume, beinhaltet andererseits aber auch Unsicherheiten und Risiken. Beides führt dazu, dass Beratung als Orientierungs-, Reflexions-, Planungs- und Entscheidungshilfe für Bildungs- und Berufsfragen wichtiger wird.

Zudem stellt die sich gegenwärtig abzeichnende Umorientierung bei der Gestaltung und Bewertung von Lernprozessen von der Input- zur Outputorientierung eine gravierende Veränderung dar, die Beratungsbedarf auslöst. Setzt sich diese Entwicklung durch, so wird es zukünftig weniger um die Frage gehen, welche Bildungsangebote eine Person besucht hat, sondern darum, welche Kompetenzen sie nachweisen kann – unabhängig davon, wie und wo diese erworben wurden. Die individuelle Kompetenzbilanzierung und daraus abzuleitende Kompetenzentwicklungsstrategien erfordern in vielen Fällen professionelle Unterstützung durch Beratung.

Nicht nur Individuen müssen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten ständig aktualisieren und erweitern. Dies betrifft Betriebe in gleicher Weise. Die Optimierung der Kompetenzen der Beschäftigten stellt in einer Wissensgesellschaft (Wissen) eine strategische Ressource für eine erfolgreiche Unternehmenspolitik dar. Um dafür optimale Strategien zu entwerfen und umzusetzen, wird auf Beratung zurückgegriffen (Organisationsberatung). Großbetriebe haben dafür betriebsinterne Strukturen aufgebaut, während insb. Klein- und Mittelbetriebe vielfach auf externe Beratung angewiesen sind.

Die Europäische Kommission (EU-Kommission) hat eine politikbasierte Definition von B. im Kontext l. L. verabschiedet, die sich auch in Deutschland als weitgehend konsensfähig erwiesen hat: „Vor dem Hintergrund des lebenslangen Lernens erstreckt sich Beratung auf eine Vielzahl von Tätigkeiten, die Bürger jeden Alters in jedem Lebensabschnitt dazu befähigen, sich Aufschluss über ihre Fähigkeiten, Kompetenzen und Interessen zu verschaffen, Bildungs-, Ausbildungs- und Berufsentscheidungen zu treffen sowie ihren persönlichen Werdegang bei der Ausbildung, im Beruf und in anderen Situationen, in denen diese Fähigkeiten und Kompetenzen erworben und/oder eingesetzt werden, selbst in die Hand zu nehmen“ (Rat der Europäischen Union, 2004, S. 2). Die EU-Kommission propagiert somit ein präventives Verständnis, demzufolge B. im Kontext l. L. nicht nur bei Pro­ble­men oder in Krisensituationen in Anspruch genommen werden sollte, sondern auch als lebensbegleitendes Reflexionsangebot zur Aufdeckung und Entwicklung von Potenzialen.

Mit B. im Kontext l. L. werden auf der politischen Ebene verschiedene Ziele verbunden (nfb & Forschungsgruppe Beratungsqualität, 2014): (1) Auf der individuellen Ebene trägt sie dazu bei, Personen in ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung (Persönlichkeitsbildung) zu unterstützen und insb. ihre bildungs- und berufsbiografische Gestaltungskompetenz zu erhöhen. (2) Auf der bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Ebene kann Beratung die Effektivität und Effizienz des Bildungssystems (Weiterbildungssystem) erhöhen, z. B. indem sie Fehlallokationen und Abbruchquoten (Dropout) verringern hilft. In Bezug auf den Arbeitsmarkt stärkt sie die Optimierung eines qualifizierten Arbeitskräftepotenzials. (3) Auf der gesellschaftspolitischen Ebene kann Beratung die Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe erhöhen und die soziale Integration tendenziell ausgegrenzter Gruppen fördern (Inklusion – Diversität).

Bei der Umsetzung dieser Ziele können auf allen Ebenen Zielkonflikte entstehen, z. B. zwischen subjektiven Bildungs- oder Berufswünschen und der Situation auf dem Arbeitsmarkt. Zu den Aufgaben von B. im Kontext l. L. gehört es auch, derartige Konflikte offenzulegen und zu bearbeiten (Mediation – Konfliktberatung).

In den letzten Jahrzehnten sind vielfältige politische Initiativen zur Stärkung der B. im Kontext l. L. auf unterschiedlichen politischen Ebenen entwickelt worden: Im internationalen Kontext haben die Europäische Union (EU), die Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) sowie die Weltbank – überwiegend zu Beginn dieses Jahrtausends – vergleichende Studien zur bildungs- und beschäftigungsbezogenen Beratung vorgelegt (Watts, Sultana & McCarthy, 2010). 2002 hat die EU-Kommission eine Expertengruppe Lifelong Guidance (2002‒2007) eingesetzt. Diese hat Empfehlungen zu den Zielen, Grundsätzen und Standards für Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung erarbeitet und gemeinsame Bezugskriterien für Qualitätssicherungssysteme (Qualität) für Bildungs- und Berufsberatungsangebote in Europa definiert (CEDEFOP, 2005). Im Anschluss gab es von 2007 bis 2015 die Expertengruppe European Lifelong Guidance Policy Network (ELGPN). Das Ziel dieses Netzwerks bestand darin, die Kooperation zur Entwicklung von Programmen und Systemen für ein Angebot lebensbegleitender Beratung sowohl im Bildungs- als auch im Beschäftigungssektor auf nationaler Ebene durch die europäische Zusammenarbeit zu fördern.

In Deutschland wurde bereits in dem für die 1970er Jahren zentralen bildungspolitischen Dokument „Strukturplan für das Bildungswesen“ des Deutschen Bildungsrats (1970, S. 91) die „Bildungsberatung als ein Strukturelement des Bildungswesens“ hervorgehoben. 2006 hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) einen Innovationskreis Weiterbildung eingerichtet. Einer der vier Arbeitskreise war dem Thema Beratung im Kontext von Bildung, Beruf und Beschäftigung gewidmet. Bei den erarbeiteten politischen Handlungsempfehlungen wurde der Beratung eine Schlüsselstellung für die Realisierung des Lernens im Lebenslauf (lifelong learning) zugewiesen.

Zu Beginn des 21. Jh. wurden eine Reihe von bildungspolitischen Aktivitäten auf Bundesebene realisiert, in denen der Beratung eine zentrale Funktion zugewiesen wurde, z. B. im Rahmen der vom BMBF geförderten Programme Lernende Region – Förderung von Netzwerken (2001‒2007) und Lernen vor Ort (2009‒2014). Unterstützt werden sollte u. a. der Ausbau und die Professionalisierung von B. im Kontext l. L. in Regionen bzw. Kommunen. Ebenso hat das BMBF in Zusammenarbeit mit den Ländern ein Konzept für ein bundesweites Infotelefon für Weiterbildungsberatung als Teil der B. im Kontext l. L. entwickelt. Das Projekt wurde seit 2015 erprobt und ist seit 2017 in den Dauerbetrieb überführt worden. Schließlich hat der Bund mit der sog. Bildungsprämie eine Zuschussregelung für Weiterbildung beschlossen, um die Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung von Beschäftigten zu erhöhen. Die Wahrnehmung einer solchen finanziellen staatlichen Weiterbildungsförderung setzt eine Beratung zu den Bildungszielen, möglichen Kursen und deren Anforderungen sowie den persönlichen Voraussetzungen voraus.

Auch viele Bundesländer haben Modellprogramme zur B. im Kontext l. L. entwickelt, in deren Kontext eine Beratung erfolgt (Schiersmann & Weber, 2013). Dazu zählen auch länderspezifische Zuschussregelungen für die Inanspruchnahme von Weiterbildung.

Im Hinblick auf die kommunale Ebene besaß die damalige Bundesanstalt für Arbeit (Bundesagentur für Arbeit) ein Monopol für die Berufsberatung. Nach deren Abschaffung im Jahr 1968 entstanden in den 1970er und 1980er Jahren im Kontext von Modellprojekten zahlreiche kommunale Weiterbildungsberatungsstellen, insb. in Nordrhein-Westfalen, aber z. B. auch in Hamburg oder Berlin. Die Konzeption dieser kommunalen und damit trägerunabhängigen Beratungsstellen wurde nach der Herstellung der deutschen Einheit auch auf die ostdeutschen Bundesländer übertragen.

Die gestiegene individuelle und gesellschaftliche Bedeutung von Beratung hat auch zu kritischen Rückfragen geführt. Im Vordergrund steht dabei eine Position, die Beratung als Instrument einer neoliberalen Gesellschaftskonzeption interpretiert, die auf Selbstoptimierung der Individuen setzt (Individualisierung). Daneben wird unter dem Stichwort „regulative Beratung“ (Käpplinger & Klein, 2013, S. 341) die Problematik einer zwangsweisen Beratung i. d. R. zum Erhalt von Fördergeldern thematisiert.

Das Feld der Anbieter von Weiterbildungsberatung als Teilbereich von B. im Kontext l. L. ist sehr heterogen. Zum einen halten Weiterbildungseinrichtungen i. d. R. selbst einen Beratungsservice vor. Dieser konzentriert sich aber auf die Beratung von Interessenten bei der Auswahl geeigneter Angebote der jeweiligen Einrichtung und dient mehr der Information als der Reflexion. Davon abzugrenzen und im Mittelpunkt des Verständnisses von Weiterbildungsberatung stehen Angebote, die trägerübergreifend oder zumindest interessensensibel ausgerichtet sind. Dieses Anbieterfeld ist positiv gesehen vielfältig, negativ betrachtet unübersichtlich – insb. für Ratsuchende. Zu großen Teilen handelt es sich um Institutionen, die weitere Aufgaben wahrnehmen, z. B. für die Agenturen der Arbeit, die Industrie- und Handels- bzw. die Handwerkskammer. Daneben gibt es Angebote in kommunaler Trägerschaft, die häufig im Rahmen von Modellprojekten entstanden sind. Diese Beratungsstellen stehen allerdings nach Auslaufen der Förderprogramme vor der grundlegenden Frage ihrer Weiterfinanzierung. Beim Feld der B. im Kontext l. L. (i. w. S.) und der Weiterbildungsberatung (i. e. S.) kann somit nicht von einem konsistenten System gesprochen werden.

Der Begriff „Beratung“ wird sehr diffus verwandt und ist nicht geschützt. Es existieren vielfältige Definitionen, die sich aber insofern ähneln, als dass sie die Hilfe zur Selbsthilfe als Ziel der Intervention benennen. Professionelle Beratung grenzt sich u. a. durch ihr planvolles Vorgehen und theoriebasierte Vorstellungen über deren Gestaltung oder Wirkungsweise von alltäglicher Beratung ab. Basierend auf dem Vergleich verschiedener wissenschaftlicher Definitionen von „Beratung“ subsumiert Thiel (2003, S. 73) diese „allgemein als Hilfe zum Lösen eines subjektiv bedeutsamen Problems“.

Die konkrete Ausgestaltung professioneller Beratungssituationen orientierte sich bislang u. a. an Ansätzen der personzentrierten Beratung, der kognitiven Verhaltensberatung, der systemischen oder der lösungsorientierten Beratung – sofern das Beratungsgeschehen überhaupt theoriegeleitet erfolgt. Eine empirische Untersuchung für den Bereich der Weiterbildungsberatung ergab, dass zu Beginn dieses Jahrtausends lediglich 45 Prozent der Beratenden ihr Beratungshandeln an einem theoretischen Konzept orientierten (Schiersmann & Remmele, 2004). Seit einiger Zeit zeichnet sich in der theoretischen Diskussion um Beratung (und Therapie) eine Abkehr von diesen sog. Beratungsschulen hin zur stärkeren Betonung übergreifender Wirkfaktoren wie der Qualität der Beziehung oder der Ressourcenorientierung ab (Schiepek, Eckert & Kravanja, 2013).

Es lassen sich verschiedene Beratungssettings unterscheiden: Nach wie vor dominiert die persönliche Beratung im Zweiergespräch. Daneben gibt es auch Gruppenberatungsangebote sowie Formen der aufsuchenden Beratung, um auch bildungsbenachteiligte Zielgruppen zu erreichen (Zielgruppenorientierung). Zugenommen haben in den letzten Jahren medial gestützte Beratungssettings, so die telefonische, die Chat- oder E-Mail-
sowie die Online-Beratung.

Um die Qualität von Beratung zu sichern, bedarf es der Beachtung unterschiedlicher Aspekte: Beratungsqualität muss den gesellschaftlichen Prozess der Professionalisierung (u. a. durch Berufsverbände und die Entwicklung von Standards), die individuelle Kompetenzentwicklung der Beratenden (insb. durch Fortbildungen) und ihre systematische Sicherung und Entwicklung auf organisationaler Ebene umfassen. Zu allen drei Ebenen sind in den letzten Jahren vielfältige Initiativen entstanden (Schiermann, 2021), die jedoch noch eines weiteren Ausbaus bedürfen.

Literatur

Centre Européen pour le Développement de la Formation Professionnelle. (Hrsg.). (2005). Verbesserung der Politik und Systeme der lebensbegleitenden Bildungs- und Berufsberatung. Anhand von gemeinsamen europäischen Bezugsinstrumenten. Luxemburg (LU): CEDEFOP.

Käpplinger, B. & Klein, R. (2013). Beratung bei Weiterbildungsgutscheinen: Zwischen Prüfung, Informa­tion und Entscheidungshilfe. In B. Käpplinger, E. Haberzeth & R. Klein (Hrsg.), Weiterbildungsgutscheine – Wirkungen eines Finanzierungsmodells in vier europäischen Ländern (Reihe Erwachsenenbildung und lebensbegleitendes Lernen – Forschung & Praxis, Bd. 21, S. 327–346). Bielefeld: wbv Publikation.

Nationales Forum Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung (nfb) & Forschungsgruppe Beratungsqualität am Institut für Bildungswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg. (2014). Professionell beraten: Qualitätsstandards für die Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung. Berlin: W. Bertelsmann.

Rat der Europäischen Union. (2004). Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten über den Ausbau der Politiken, Systeme und Praktiken auf dem Gebiet der lebensbegleitenden Beratung in Europa (Doc 9286/04). Brüssel (BE): Rat der EU.

Schiepek, G., Eckert, H. & Kravanja, B. (2013). Grundlagen systemischer Therapie und Beratung: Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen (Reihe Systemische Praxis, Bd. 1: Grundlagen systemische Therapie und Beratung). Göttingen: Hogrefe.

Schiersmann, C. (2021). Beraten im Kontext lebenslangen Lernens (Lehrbuchreihe Erwachsenen- und Weiterbildung. Befunde – Diskurse – Transfer, Bd. 5, utb 5826). Bielefeld: wbv Publikation.

Schiersmann, C. & Remmele, H. (2004). Beratungsfelder in der Weiterbildung – eine empirische Bestandsaufnahme. Baltmannsweiler: Schneider.

Schiersmann, C. & Weber, P. (Hrsg.). (2013). Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung – Eckpunkte und Erprobung eines integrierten Qualitätskonzepts. Bielefeld: wbv Publikation.

Thiel, A. (2003). Soziale Konflikte (Reihe Einsichten. Themen der Soziologie). Bielefeld: transcript.

Watts, A. G., Sultana, R. G. & McCarthy, J. (2010). The involvement of the European Union in career ­guidance policy: a brief history. International Journal for Educational and Vocational Guidance, 10(2), 89107.

Autonomie
Berufliche Weiterbildung