Wolfgang Neuser
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-026
Der Begriff A. ist griechischen Ursprungs und bedeutet übersetzt „Eigengesetz“, „Selbstgesetz“, „Selbstbestimmung“, „nach eigenen Gesetzen“. Er muss abgegrenzt werden von „Heteronomie“ (Fremdbestimmtheit), „Autarkie“ (Selbsterhaltung, Selbstherrschaft) und „Anomie“ (ganz ohne Gesetz). A. taucht in der antiken griechischen Dichtung auf, nicht aber in lateinischen Kontexten, und wird erst in der Frühen Neuzeit (Mitte des 16. Jh.) in juristischen Texten zur Bezeichnung von Rechtsansprüchen benutzt. Heute wird A. zur Charakterisierung von Abhängigkeiten in solchen Zusammenhängen verwendet, in denen Individuen, Organisationen oder Sachverhalte als eine separate Einheit gedacht werden, die ohne ihre Umgebung bestimmbar ist und innerhalb derer Handlungen nach Regeln ablaufen, die sie sich selbst gesetzt hat.
Grundlegend unterschiedliche Bedeutung hat A., wenn die Verknüpfungen von Elementen innerhalb der Einheit als kausal zusammenhängend gedacht werden (1). Dann müssen zusätzlich Bestimmungen vorgenommen werden, die die Gesetze festlegende Einheit separieren, sodass es ein Selbst dieser Einheit überhaupt erst gibt. Eine andere Variante nimmt eine systemische (→ System) oder selbstorganisatorische Wechselwirkung (→ Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen) innerhalb der Einheit an (2). Dann muss deren Interaktion mit anderen gleichartigen Einheiten oder Subsystemen so gedacht werden, dass die interne Selbstbestimmung nicht durch eine äußere Intervention geschieht. Im Fall der systemischen Organisation oder Selbstorganisation müssen autonome Systeme von autogenen (aus eigener Kraft entstandenen bzw. bestehenden) Systemen unterschieden werden. Beide Annahmen und damit Verwendungen des Begriffs A. finden sich in allen Wissenschaften oder Denkbereichen.
In der KI-Forschung erfährt A. in Netzwerktheorien auch eine mathematische Formulierung. „Autonome (KI-)Systeme handeln selbstständig, lernen, lösen komplexe Aufgaben und können auf unvorhersehbare Ereignisse [eigenständig, nach eigenen Regeln] reagieren“ (DFKI, 2020, S. 1). Für die Lösung von Aufgaben brauchen diese autonomen Systeme, anders als in der robotorgesteuerten Prozessautomatisierung, kein vorgegebenes Schema; das System steuert sich selbst.
Zu (1). Handlungen von Einzelnen, → Organisationen oder → Gesellschaften sind dann autonom, wenn sie nicht von Dritten bestimmt werden und die Akteure – aus welchen Gründen auch immer – in der Lage sind, die Handlungsregeln frei zu bestimmen und nach diesen Regeln auch zu handeln (bzw. handeln zu können). So argumentiert Immanuel Kant etwa, dass ein einzelnes Subjekt dann autonom handelt, wenn es selbstbestimmt handelt und nicht nach von außen vorgegebenen Bedingungen (→ Aufklärung). Autonom ist das Subjekt hiernach also nur, sofern sein Wille frei ist, frei von äußeren und inneren Bestimmungen, und es nach seinen Maximen handeln kann, die vernünftigerweise allgemeines Gesetz sein können. Diese selbstgesetzten Handlungsregeln versteht Kant als Ausdruck einer praktischen Vernunft (Kant, 1977 [1788, 1785]; auch Lutz-Bachmann, 2019).
Zu (2). In selbstorganisierten Systemen liegt A. vor, wenn Relationen und → Interaktionen von Elementen, die das System konstituieren, nur von diesen Elementen abhängen und vom System selbst bestimmt werden. Es muss dann zwischen autonomen Selbstbestimmungen unterschieden werden, die zwischen den Elementen oder Subsystemen existieren, und denen, die auf gleicher Ordnungsebene existieren. Da alle Einflüsse der Elemente eines selbstorganisierten Systems als gestaltende Eingriffe verstanden werden, kann es zu einem Überfluss (Redundanz) kommen, der die A. erhöht.
Der Soziologe Niklas Luhmann (1987) erkannte, dass selbstorganisierte Systeme, die aus Subsystemen bestehen, eine relative A. realisieren, weil die Selbststabilisierung eines Subsystems als eine autonome Handlung begriffen werden kann. Die Dynamik dieser Selbststabilisierung nach eigenen internen Regeln des Subsystems setzt jedoch voraus, dass es von außen angestoßen wird. Die A. besteht daher nur bezogen auf die Handlungen im Inneren des Subsystems.
Literatur
Lutz-Bachmann, M. (2019). Autonomie (I. Philosophisch). In Görres-Gesellschaft. (Hrsg.), staatslexikon-
online.de (8. Aufl.). Freiburg: Herder.
Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. (2021). Autonome Systeme. Kaiserslautern: DFKI.
Kant, I. (1977 [1788, 1785]). Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. VII, hrsg. v. W. Weischedel). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.