Aufklärung

Roland Reichenbach

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-025

Mit A. wird sowohl eine historische Epoche in Europa und Nordamerika (zwischen ca. 1650 und 1800) bezeichnet als auch eine Disposition des Denkens bzw. eine Haltung oder ein Weltzugang. Zuallererst ist A. aber eine Metapher, eine Variante der kulturgeschichtlich viel älteren Lichtmetaphorik: So heißt A. im Französischen les lumières, im Englischen enlightenment. Das Reden über die geistigen Vermögen des Denkens und Verstehens ist seit der griechischen Antike von der Lichtmetaphorik geprägt; auch heute spricht man bspw. noch von „Erleuchtung“, „Erklären“, „Erhellen“, „Licht in das Dunkel bringen“, „Durchblicken“, „hell im Kopf sein“, „einen klaren Verstand“ oder „ein ungetrübtes Bewusstsein haben“. Die Lichtmetaphorik ist ihrerseits keineswegs allein auf Rationalität oder wissenschaftliche Erkenntnis bezogen, sondern umfasst zunächst auch mystische und religiöse Erfahrung (z. B. „das Licht der Welt erblicken“, „göttliches Licht“, „Licht der Hoffnung“). Mit dem Begriff A. wird suggeriert, dass es ohne sie dunkel ist und die Welt und die Natur des Menschen nicht „durchschaut“ werden oder worden sind.

Im deutschsprachigen Raum wird immer wieder auf die bekannten Zeilen Immanuel Kants rekurriert, um eine Art Definition von A. zu haben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursachen derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern an der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner selbst ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (Kant, 1977 [1783], S. 53, Hvh. i. O.).

Tatsächlich ist die schottische, englische und französische A. der deutschen A. zeitlich vo­raus­gegangen. Während Immanuel Kant (1724–1804) im deutschsprachigen Raum als der wohl bedeutendste „Aufklärer“ angesehen wird, ist es im angelsächsischen Raum David Hume (1711–1776), im französischen Voltaire (1694–1778). Auch sie hatten ihre Vorgänger und profitierten von deren Werken, etwa von John Lockes „Essay Concerning Human Understanding“ (1690). Auch könnte behauptet werden, schon Sokrates (Sokra­tische Methode) sei ein Aufklärer gewesen, die Glorifizierung der Aufklärer (der Epoche der A.) sei unnötig, denn auch sie sähen nur weiter, weil sie „auf den Schultern von Riesen standen“ – um das Bonmot von Isaac Newton aus dem Jahre 1675 zu bemühen.

Thematisch ist das Aufklärungsdenken einerseits für die politische Philosophie (insb. die Vertragstheorien bei Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau), andererseits für die Erkenntnistheorie (bei John Locke, George Berkeley, David Hume, Immanuel Kant) bis heute maßgeblich und wirkungsvoll. Die zentralen Ideen der A. gruppieren sich um die Bedeutung und das Verständnis der Vernunft, der Natur und des Fortschritts (Brinton, 1967, S. 520f.). Insb. mit dem neuen Naturverständnis und mit der Fortschrittsidee wurde auch das erziehungstheoretische Denken bspw. von Locke („Some thought concerning education“, 1693) über Rousseau („Emile oder Über die Erziehung“, 1762) zu Johann H. Pestalozzi („Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“, 1797) regelrecht beflügelt.

Die emphatische Berufung auf die Vernunft und die damit verbundene Urteilsfähigkeit des Menschen, die es zu fördern galt, darf sicher als eines der zentralen Merkmale der A. –
dem „Age of Reason“ – genannt werden. Insb. religiöse Traditionen und gesellschaftsprägende Gewohnheitsrechte wurden kritisch hinterfragt bzw. abgelehnt. In diesem Zusammenhang spielte die von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert 1751 erstmals herausgegebene „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ eine essenziell wichtige Rolle, vollzog sich mit ihr doch auch eine radikale Hinwendung zu den Naturwissenschaften und zum Materialismus. Der Fokus auf Vernunft ermöglichte, förderte und erforderte eine Neuinterpretation der Natur – einerseits in Form der Metaphysikkritik, d. h. der Kritik am „Übernatürlichen“, andererseits als Kritik am „Unnatürlichen“. Das Übernatürliche wurde kritisiert, weil es nicht existiere, das Unnatürliche hingegen, weil es existiere. So erschien 1755 der „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes“, mit welchem Jean-Jacques Rousseau auf ein Preisausschreiben der Académie de Dijon antwortete.

Laut seiner Gesellschaftskritik kommt es durch Eigentumsbildung zur politischen Ungleichheit zwischen den Menschen, die keineswegs „natürlich“ sei. Die fehlgeleitete Entwicklung aus dem Naturzustand in den bestehenden Gesellschaftszustand sei weder gottgegeben noch Naturgesetz, vielmehr könne der Mensch dank seiner Perfektibilität und seiner Handlungsfreiheit die Geschichte verändern und das Gemeinwohl fördern – er sei frei geboren, doch überall liege er in Ketten, so Rousseaus bekanntes Diktum zu Beginn seines Hauptwerks zum Gesellschaftsvertrag („Contrat social ou Principes du droit politique“, 1762). Die Differenz zwischen dem Natürlichen und dem Unnatürlichen hatte im aufklärerischen Denken eine unmittelbar politische Bedeutung; sie führte zur Idee des Fortschritts und den damit verbundenen Forderungen der Förderung von Bildung und Bürgerrechten, von allgemeinen Menschenrechten sowie von der Einsicht, dass sich der Staat um das Gemeinwohl zu kümmern habe (öffentliche Verantwortung; Wohlfahrtsstaat).

Gleichzeitig mit der A. entwickelte sich eine Kritik, die als „romantisch“ bezeichnet werden kann und sich gegen den ausgeprägten Glauben an die Vernunft richtete. A. und Romantik mit ihren Idealen subjektiver Freiheitspraxis – namentlich „selber denken“ (Autonomie) und „seiner Stimme folgen, sich selbst ausdrücken“ (Authentizität) – fungierten als die beiden Seiten der Medaille der Moderne (Taylor, 1995). Die damit einhergehenden Spannungen zwischen möglichen Selbstverständnissen und Interpretationen des Sozialen sowie Politischen ermöglichten gleichzeitig eine dauerhafte, mitunter krisenhafte, aber auch dialektische Diskussion, welche als zentrales Merkmal einer unabgeschlossenen Moderne verstanden werden kann (Arendt, 1996 [1958]).

Der auffällige Fokus auf Erkenntnis durch Vernunftgebrauch („Rationalität“) ist seit Beginn der A. als zu dominant und einseitig kritisiert worden. Mit der Romantik kommt es zu Versuchen ganzheitlicher Beschreibungen des Menschen. Diese betonen insb. die Bedeutung der Empfindungen und Gefühle (Emotion – emotionale Kompetenz), der Kreativität der Sprache und der historischen und kulturellen Zugehörigkeit im menschlichen Leben und Zusammenleben. Nach Johann G. Herder und Johann G. Hamann steht dafür v. a. das Bildungsdenken Wilhelm von Humboldts und seine vergleichende Sprachphilosophie. Nicht allein der „eigene Verstand“ ist zu gebrauchen, sondern auch der „eigenen Stimme“ ist zu folgen – so lässt sich die romantisch inspirierte „Korrektur“ der A. sehr knapp zusammenfassen. Bis heute stehen rationalistische (bzw. logisch-diskursive) und (neu-)humanistische bzw. (holistische) Interpretationen des Menschen im bildungstheoretischen Denken in einem gewissen Spannungsverhältnis.

In pädagogischer und v. a. bildungstheoretischer Perspektive betrifft A. nicht allein das Wissen über die Welt, sondern insb. auch die Frage nach dem Erkennen-Können. „Was kann ich wissen?“ ist eine der drei kritischen Fragen Kants (sog. Kardinalfragen). Mit diesem selbstkritischen Perspektivenwechsel geht der philosophische Blick weg von den klassischen Themen (der Frage nach Gott, der Freiheit, der Unsterblichkeit, dem Weltganzen oder dem Wesen der Dinge), „hin auf unsere Erkenntnisart von Gegenständen, nicht in psychologischer Manier, sondern darauf bezogen, was Erkenntnis und Urteil so möglich macht, dass ihnen teils objektive Geltung zukommt, teils offensichtlich gerade nicht oder jedenfalls noch nicht“ (Fischer, 1998, S. 134, Hvh. i. O.). Kant identifiziert zwei Quellen unseres Wissens bzw. unserer Erkenntnis, nämlich die Empfindung (Sinneswahrnehmung) und die reinen Formen des Verstands. So gibt es einerseits die Erkenntnis durch Empfindung, welche durch konkrete Erfahrung mit der Welt bedingt ist bzw. der Erfahrung im Nachhinein folgt (also eine – behauptete – Erkenntnis a posteriori darstellt), und andererseits auch erfahrungsunabhängige Bedingungen für bestimmte Behauptungen (also Bedingungen a priori). „Erst wenn beides zusammenspielt, ‚Erfahrung‘ und apriorisches Vermögen des Verstandes“, so Fischer (ebd., S. 135), „liegt objektive Erkenntnis der Möglichkeit nach vor“. Fehlt es prinzipiell am Material der Erfahrung (z. B. weil ein letzter Grundsatz ins Übersinnliche projiziert wird), so kann die „Wahrheit“ nicht überprüft werden, und die entsprechende „Erkenntnis“ ist weder wahr noch falsch, weil sie gar keine Erkenntnis sein kann.

A. heißt in beiden Fällen – ob es nun um die Welt oder um die erkennende Person geht –
sich schonungslos der Erkenntnis preiszugeben und sich den Autoritäten des Wissens, denen man nur glauben kann, und den Autoritäten des Tuns, denen man gehorchen sollte, nicht blind zu unterwerfen, nicht ohne selbst gefragt zu haben, ob dieser Glaube oder dieser Gehorsam, zu welchem Ego vielleicht aus Feigheit oder Faulheit neigt (Kant, 1977 [1783]), überhaupt berechtigt ist. A. ist die Bedingung des Fortschritts (Modernisierung) in den Bereichen Wissenschaft und Ethik. Fortschritt wird als Höherentwicklung gedacht; der Einzelmensch, aber auch die Gemeinschaft, die Gesellschaft und schließlich die Menschheit sind nach dem Fortschrittsglauben prinzipiell zur Höherentwicklung fähig. Im Glauben an die Möglichkeit der Förderung des Fortschritts, der Höherbildung des Menschen und der Erziehung des „Menschengeschlechts“ zu seinem „aufgeklärten Zeitalter“ sind die Wurzeln des Leitbegriffs jeder gesellschaftskritischen Pädagogik bis zum heutigen Datum zu sehen. Es handelt sich um ein großes Vertrauen auf die Wirksamkeit von Erziehung („pädagogischen Optimismus“), d. h. ein Vertrauen auf die gezielte Veränderung von Mentalitäten, Wertvorstellungen und Lebensperspektiven, um gesellschaftliche Krisen zu bewältigen.

Der aufklärerische Fortschrittsgedanke basiert auf der Idee, dass die Geschichte der Menschheit, aber auch der Gesellschaft mehr ist – oder sein soll – als eine sinnlose Reihung von Ereignissen (Arendt, 1998 [1971], S. 267). Seit dem 17. Jh. wird vermutet, behauptet und erhofft, dass sinnvolle Geschichte als Verbesserung auch ohne konkretes Bewusstsein der Akteure – oder zumindest nicht aller – möglich ist. Fortschritt erscheint so als ein von der Menschheit (als Abstraktum) gehegter Plan, „der hinter dem Rücken der Menschen wirksam wird“, (aber) als eine „personifizierte Kraft“ (ebd., S. 381f.) – vergleichbar mit der „unsichtbaren Hand“ bei Adam Smith, der „List der Natur“ bei Immanuel Kant, der „List der Vernunft“ bei Georg W. F. Hegel oder dem „dialektischen Materialismus“ bei Karl Marx (ebd.). Der Fortschritt erfasst nicht nur die Erkenntnis, sondern die menschlichen Verhältnisse überhaupt. Was in diesem Zusammenhang Intergenerativität ermöglicht und zugleich bedingt, ist der Umstand, dass die „Lebensdauer des Menschen als eines Individuums“ zu kurz ist, „um alle menschlichen Anlagen und Möglichkeiten zu entwickeln“ (ebd., 1998 [1982], S. 18). D. h. der Fortschritt der Gattung wird dauernd unterbrochen durch das „Sterben alter und Geborenwerden neuer Einzelwesen“, und „die neuen müssen eine sehr lange Zeit darauf verwenden zu lernen, was die alten schon wussten und hätten weiterentwickeln können, wenn ihnen ein längeres Leben vergönnt gewesen wäre“ (ebd., S. 38). Diesem Umstand verdanken wir die Tatsache, dass der Fortschritt, der immer als ein Fortschritt der Gattung gilt, „daher von wenig Nutzen für das Individuum“ (ebd., S. 40) ist. Es mag sogar scheinen, dass es überhaupt „gegen die menschliche Würde [ist], an den Fortschritt zu glauben“ (ebd., S. 102). So kommt es, dass das tonangebende Konzept des 18. Jh. von Kant selbst eher mit Melancholie gesehen wird: „Denn der Zustand, in welchem er itzt ist, bleibt immer doch ein Übel, vergleichungsweise gegen den besseren, in den zu treten er in Bereitschaft steht; und die Vorstellung eines unendlichen Fortschreitens zum Endzweck ist doch zugleich ein Prospekt in eine unendliche Reihe von Übeln, die ob sie zwar von dem größren Guten überwogen werden, doch die Zufriedenheit nicht Statt finden lassen, die er sich nur dadurch, dass der Endzweck endlich einmal erreicht wird, denken kann“ (Kant, 1977 [1794], S. 184).

Literatur

Arendt, H. (1998 [1982]). Das Urteilen. München: Piper.

Arendt, H. (1998 [1971]). Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen (hrsg. v. M. McCarthy, 11. Aufl.). München: Piper.

Arendt, H. (1996 [1958]). Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper.

Brinton, C. (1967). Enlightenment. In P. Edwards (Ed.), The encyclopedia of philosophy (vol. 2, pp. 519–525). New York (US): Macmillan.

Fischer, W. (1998). Immanuel Kant. In W. Fischer & D.-J. Löwisch (Hrsg.), Philosophen als Pädagogen. Wichtige Entwürfe klassischer Denker (2., überarb. u. erg. Aufl., S. 125–139). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Kant, I. (1977 [1783]). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. In I. Kant (Hrsg.), Schriften zur Anthro­pologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik (I. Werkausg., Bd. XI, hrsg. v. W. Weischedel, S. 53–61). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Kant, I. (1977 [1794]). Das Ende aller Dinge. In I. Kant (Hrsg.), Schriften zur Anthropologie, Geschichts­philosophie, Politik und Pädagogik (I. Werkausg., Bd. XI, hrsg. v. W. Weischedel, S. 175–190). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Taylor, C. (1995). Das Unbehagen an der Moderne (11. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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