Anthropologie

Ute Holm

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-015

Die erwachsenenpädagogische A. beschreibt Bedingungen von Lehr-Lern-Prozessen unter besonderer Betrachtung der Situationen, Merkmale und Befindlichkeiten der beteiligten Lernenden. Eine implizite A. findet sich in jeglichen erwachsenenpädagogischen theoretischen, konzeptionellen und programmatischen Positionen, geht es doch jeweils um Vorstellungen von lernenden Erwachsenen. Dabei begründen sich anthropologische Positionen historisch, kulturell und disziplinär und unterliegen folglich einem Perspektivismus.

Die Bedeutungsdimensionen der erwachsenenpädagogischen A. glichen bis in die 1970er Jahre noch wesentlich denen der allgemeinpädagogischen A. (Pädagogik). Zeit- und disziplingeschichtlich interessant ist die Entwicklung der (deutschen) pädagogischen A. in Reaktion auf die philosophisch-anthropologische Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jh. und wiederum die in den letzten Jahrzehnten stattfindende Auseinanderentwicklung von allgemein- und erwachsenenpädagogischer Anthropologiedebatte. So hat sich der Blick auf erwachsene Lernende in Abgrenzung zu Kindern mit der Etablierung der Erwachsenen- und Weiterbildung als eigene Disziplin geschärft (Erwachsenenbildung als Wissenschaft). Hier gab es zunächst den Versuch, die anthropologische Per­spektive als ausgewiesenen Forschungsbereich zu begründen. In diesem Zusammenhang gilt die „Anthropologie des Erwachsenen“ von Pöggeler (1964) als zentrales Werk.

Mit dem sich entwickelnden Selbstverständnis der Erwachsenenbildung wird es zunehmend hinfällig, an universellen anthropologischen Aussagen festzuhalten. Idealvorstellungen, z. B. über fest definierte Lebensphasen und daran geknüpfte Lernanforderungen, sind nicht mehr haltbar. Zu stark rücken im Laufe der Disziplinentwicklung Erkenntnisse –
z. B. über individualisierte Lernprozesse (Individualisierung), aber auch über Lernwiderstände oder die Funktionalisierung von Bildung ( Qualifikation) – in den Fokus. Auch der häufig alternativ zur A. verwendete Begriff „Menschenbild“, der stärker pragmatisch und didaktisch konnotiert ist, unterliegt einer Normativität, da jeweils bestimmte Vorstellungen vom Erwachsenen transportiert werden.

In der den Begriffen inhärenten abstrakten Normativität kann der Grund dafür gesehen werden, dass die anthropologische Debatte in der Erwachsenenbildung keine Karriere gemacht hat und – außer durch vereinzelte Beiträge – nicht explizit weitergeführt wurde. Angesichts der Ausdifferenzierung des Institutionen-, Inhalts- und Adressatengefüges richtet sich das Interesse eher auf Erwachsene, Lernende, Teilnehmende, Frauen, Männer oder andere Gruppen. Es handelt sich nicht mehr um statische, sondern um vorübergehende, im kontinuierlichen Diskurs entstehende Vorstellungen von lernenden Erwachsenen.

Ehemals in Gesamtentwürfen einer erwachsenenpädagogischen A. zusammengefasste Erkenntnisse finden im heutigen Curriculum der Erwachsenenbildungsdisziplin als insb. soziologische, psychologische und philosophische Bezugswissenschaften Beachtung. In der gegenwärtigen Betrachtung u. a. von Leiblichkeit, Zeitlichkeit (Zeit) und Räumlichkeit (Raum) als anthropologische Voraussetzungsdimensionen des Erwachsenenlernens ist die Rezeption phänomenologischer Perspektiven (Phänomenologie) auszumachen. Eine anthro­pologische Forschungskultur ist in der Erwachsenenbildung nicht entfaltet. Dabei fordern disziplinär brisante Gegenwartsthemen wie das digitale Lernen zu einer empirisch gestützten anthropologischen Verortung auf, um Diskurse ausgehend von den komplexen menschlichen Bedingtheiten des Lernens weiterzuführen.

Literatur

Holm, U. (2018). Anthropologische Voraussetzungen des Lernens Erwachsener – Lernfähigkeit als Grundlage der Erwachsenenbildung. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., S. 109–125). Wiesbaden: Springer VS.

Noack Napoles, J., Schemmann, M. & Zirfas, J. (Hrsg.). (2021). Pädagogische Anthropologie der Erwachsenen. Weinheim: Beltz.

Pöggeler, F. (1964). Der Mensch in Mündigkeit und Reife. Eine Anthropologie des Erwachsenen. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

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