Ortfried Schäffter
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-004
Unter dem Begriff A. lassen sich alle routinisierten Abläufe fassen, die sich als weitgehend latente Gewohnheitsmuster im Rahmen von → Arbeit, → Freizeit, Konsum, Schlaf und soziokulturellen Aktivitäten herausgebildet und dabei einen nicht-thematisierten Selbstverständlichkeitscharakter entwickelt haben.
Die Latenz von Alltäglichkeit verweist darauf, dass es nicht um den Gegensatz von bewusst – unbewusst bzw. unterbewusst geht, sondern dass A. das „Unalltägliche“ im Sinne eines „Außergewöhnlichen“ zum Gegenbegriff hat. A. ist daher weder räumlich-territorial noch situativ oder zeitlich abgrenzbar, sondern nach Soeffner (2004, S. 21) als der spezifische „kognitive Stil der [sozialen] Praxis“ zu fassen. „Die generative Struktur dessen, was wir Alltag nennen, beruht vielmehr auf einem besonderen Typus der Erfahrung, des Handelns und des Wissens“ (ebd.). Die spezifische Leistung des alltäglichen Erfahrungstyps (→ Erfahrungen – Erfahrungsorientierung) besteht in der Konstitution von Evidenz im Sinne einer selbstverständlichen Normalität. Alltagserfahrung bewirkt eine „Minimierung des Ungewöhnlichen, des Zweifels“ (ebd., S. 22). Sie schafft dadurch „zugleich eine fundamentale intersubjektive Erfahrungs-, Wissens- und auch Organisationsform des alltäglichen Milieus“ (ebd.). Geertz (1983, S. 261–288) konzeptualisiert dies kulturtheoretisch als Common-sense-Struktur, die auf die Reflexionsstufe einer „Beobachtung erster Ordnung“ (ebd., S. 23) beschränkt bleibt.
Unklarheiten ergeben sich aus unzureichender Abgrenzung zur Kategorie → Lebenswelt. Hierdurch bleiben die je mitgedachten ontologischen Voraussetzungen außer Betracht. Folge man jedoch Alfred Schütz, so bezeichnet „Lebenswelt“ den insgesamt umgreifenden Sinnhorizont für alle finiten Sinnbereiche (Soeffner, 2004, S. 21). „Lebenswelt“ fundiert somit alltägliche ebenso wie nicht-alltägliche Erfahrungstypen (Meyer-Drawe, 1989). Alltagsgebundenes → Wissen sollte daher nicht mit „natürlicher Einstellung“ verwechselt werden, auch wenn dies innerhalb der Common-sense-Struktur von Geertz naiv unterstellt wird. Als Konsequenz folgt hieraus, dass „Alltäglichkeit“ im Sinne eines kognitiven Stils sozialer Praktiken auch in den Handlungsroutinen der Funktionssysteme, wie Wissenschaft, Bildung oder Wirtschaft, aufzufinden ist. A. ist also kein kontrastiver Gegenbegriff zur Funktionslogik sozialer → Systeme. Im Gegensatz dazu bezeichnet die phänomenologische Kategorie Lebenswelt die sozial-ontologische Dimension einer Seinsweise des Humanen im Sinne eines „In-der-Welt-Seins“ menschlicher Akteure, wobei jeweils spezifische Varianten „alltäglich zu leben“ durch differente Lebenswelten überhaupt erst möglich werden (→ Phänomenologie).
Für die Rekonstruktion von Prozessen lebenslangen Lernens (→ lifelong learning) wird die Unterscheidung zwischen → Lernen in alltäglichen Sinnzusammenhängen und Lernen in besonderen, vom A. als „didaktisch“ (→ Didaktik – Methodik) unterschiedenen Sinnkontexten zu einer Leitdifferenz, mit der sich pädagogisches Handeln von zwei Seiten einer Form beobachten lässt.
Erwachsenenpädagogische Theoriebildung und daran anschließende empirische Forschung werden dadurch in die Lage versetzt, auch die alltagsweltlichen Varianten einer gesellschaftlichen → Institutionalisierung von Erwachsenenlernen als relevanten Gegenstand wahrzunehmen. Durch eine derartige Entgrenzung oder Verallgemeinerung des Pädagogischen gewinnt die Disziplin einen über berufsständisches Erkenntnisinteresse hinausreichenden, gesellschaftstheoretischen Beobachterstandpunkt. Alltägliche Strukturbildungen pädagogischen Handelns sind aus dieser Perspektive allerdings nicht mehr zureichend mit der Residualkategorie des informellen Lernens rekonstruierbar, weil damit implizit Unterrichtsdidaktik (→ Unterricht) als Normalform unterstellt wird. Stattdessen werden in Anschluss an Alfred Schütz folgende „Merkmale alltagsgebundenen Lernens“ (Schäffter, 2001, Kap. 6) qualitativ bestimmbar:
- Alltagsweltliche Lernanlässe bauen ihr spezifisches Spannungsgefälle innerhalb einer pragmatischen Sinnstruktur auf und beziehen sich hier auf Lernen im Tätigsein, z. B. im Prozess der Arbeit (→ Lernen am Arbeitsplatz), der täglichen Lebensführung und im Verfolgen unterschiedlicher Aktivitäten im Laufe des Lebens.
- Lernen folgt Relevanzstrukturen des Alltagswissens und nicht einer Sach- oder Fachsystematik.
- Lernprozesse schmiegen sich beiläufig der insular fragmentierten Sach- und Handlungsrelevanz alltäglicher Vorhaben an.
- In seiner Normalform verläuft alltagsgebundenes Lernen latent und daher ohne besondere Aufmerksamkeit zu verlangen; erst im Problemfall gerät es in den Fokus reflexiver Beobachtung.
- Alltägliche Lernprozesse bilden eine eigene Ordnung heraus und finden dabei ihren organisatorischen Ausdruck in fluiden, ihre Ziele im Prozessverlauf generierenden Strukturen, die sich in Routinen alltäglicher Praktiken verfestigen (→ Habitus) und langfristig auch kulturell zu institutionalisieren vermögen (z. B. in hoch elaborierten Alltagspraktiken des Lesens oder narrativen Erzählens).
- Das alltagsgebundene Lernen ist im Widerspruch zu gängigen Überhöhungen nicht aus sich heraus bereits selbstbestimmt, sondern aufgrund seiner Kontextabhängigkeit thematisch, sozial und temporal höchst voraussetzungsvoll und wirkt in seinem konstellationsbezogenen Ereignischarakter äußerst selektiv.
- Aus erkenntnistheoretischer Sicht werden dem Alltagswissen in seiner hermeneutischen Struktur unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben. Während bspw. John Dewey im Kontext des amerikanischen Pragmatismus von einer Kontinuität von alltagsgebundener inquiry zu wissenschaftlicher Erkenntnisgenerierung ausgeht und im reflexiven Konzept eines learning by doing pädagogisch umsetzt (→ handlungsorientierte Didaktik), geht die an naturwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion orientierte „Philosophie des Nein“ von Gaston Bachelard von einem epistemischen Bruch (rupture) zwischen zwei nicht zu vereinbarenden, sich aber komplementär konstituierenden Weltverhältnissen aus.
Im historischen Prozess gesellschaftlicher → Modernisierung wurden die Wirksamkeitsgrenzen von alltagsgebundenen Prozessen lebensbegleitender Weiterbildung spätestens an der Epochenschwelle der Sattelzeit um 1750 bis 1850 (Koselleck, 2000) erreicht: Immer dann, wenn alltagsgebundene Lernzumutungen bei den beteiligten Akteuren zu Überforderung, Ineffektivität oder zu Wirkungsverlust führen, entsteht Bedarf an nicht-alltäglichen, auf den Lernprozess selbstreferenziell rückkoppelnden Strukturen einer „Beobachtung zweiter oder dritter Ordnung“ (Geertz, 1983, S. 23). Diese strukturelle Steigerung an Reflexion erfolgt durch eine funktionale Ausgliederung didaktisierter Sondersituationen in Form nicht-alltäglicher Lernsituationen. In ihnen wird die „Kontingenzinvisibilisierung“ der alltäglichen Common-sense-Struktur aufgehoben und dadurch systematisch verfügbares Nicht-Wissen produziert. Nur in dieser strukturellen Kontrastierung von beiden Kontextierungen wird A. als ein normalitätssicherndes Konstrukt verständlich und über die vage Restkategorie informell hinausgehend auch qualitativ in seiner besonderen Eigenlogik bestimmbar. A. erhält seinen produktiven Sinn einer evidenten Selbstverständlichkeitsstruktur somit erst aus seiner Komplementarität zu kognitiven Strategien (→ Kognition) einer kritisch-reflexiven Beobachtung höherer Ordnung.
Die seit längerem einsetzende Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung betont aus dieser Problemsicht heraus einen paradigmatischen Strukturbruch zwischen zwei gleichrangigen Kontextierungen, die jeweils einer unverwechselbaren Logik eigenen Rechts folgen. Ihre Differenz wird im erziehungswissenschaftlichen Diskurs an drei Systemreferenzen diskutiert:
- Sachlich wird sie auf einer wissenssoziologischen Ebene als Differenz zwischen erfahrungsbezogenem Alltagswissen und systematischen Wissensbeständen erörtert. Deutlich wird dabei, dass in beiden Kontextierungen ein jeweils unterschiedlicher Lerngegenstand konstituiert wird (Forneck, 1987). Damit wird die didaktische Kategorie → Inhalt wissenssoziologisch relativiert und über die didaktische Kategorie Lehrstoff hinaus auch alltagstheoretisch fassbar.
- Sozial wird auf einer institutionstheoretischen Ebene die Differenz zwischen zwei Profilen pädagogischer Dienstleistung beobachtbar, nämlich zwischen alltagsdidaktischem Support durch Lernberatung und Kompetenzentwicklung (→ Kompetenz) einerseits und grenzüberschreitenden sowie distanzfördernden Lehr-Lern-Arrangements andererseits, die als Emanzipation des Lernens aus der Eingebundenheit in lebensweltliche Milieus oder biografischer Verstrickung (→ Biografie) gedacht sind. An dieser Gegenüberstellung wird erkennbar, dass Konzepte wie Alltagsorientierung, Praxisbezug oder Lernfeldorientierung weiterhin den Anbieterstandpunkt funktional didaktisierter Kontexte aus einer nicht-alltäglichen Relevanzstruktur her deuten, was alle Komposita der „-orientierung“ verraten. Alltagsorientierung kann qua definitione niemals zur Evidenz alltagsgebundenen Lernens führen, sondern erweist sich als ein höchst voraussetzungsvolles didaktisches Setting auf einer überaus hohen Reflexionsstufe reformpädagogischer Selbstbeobachtung, in dem am Lerngegenstand „Alltagsbewusstsein“ (Forneck, 1987) ausgedeutet wird.
- Temporal kommen differente Zeitregimes im Verlauf lebensbegleitenden Lernens im Erwachsenenalter in den Blick: Während in Kontexten alltagsgebundenen Lernens permanent beiläufig gelernt werden kann, dies aber nur unter lernhaltigen und lernförderlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen realisiert wird, stellt sich in funktional didaktisierten Kontexten das temporaltheoretische Übergangsproblem einer Synchronisation zwischen Lernzeiten und den von ihnen unabhängigen alltäglichen Anlässen und Entwicklungszeiten (Felden, Schäffter & Schicke, 2014).
Insgesamt stellt sich im Rahmen der konstitutiven Leitdifferenz zwischen alltagsgebundenen und funktional didaktisierten Lernkontexten die Frage, wie in der weiteren Entwicklung gesellschaftlicher Institutionalformen lebensbegleitender Bildung das spannungsreiche Verhältnis zwischen beiden Kontextierungen in ihrer strukturellen Komplementarität verstanden und pädagogisch fruchtbar gemacht werden kann. U. a. erklärt sich hieraus, dass Konzepte der Weiterbildungs- und der Lernberatung (→ Beratung im Kontext lebenslangen Lernens) zunehmend als intermediäre Schnittstelle wahrgenommen werden und in diesem Sinne eine zukunftsweisende Transformationsdynamik organisationspädagogischer Institutionalentwicklung darstellen (Göhlich et al., 2014).
Literatur
Felden, H. von, Schäffter, O. & Schicke, H. (Hrsg.). (2014). Denken in Übergängen: Weiterbildung in transitorischen Lebenslagen. Wiesbaden: Springer.
Forneck, H. J. (1983). Alltagsbewusstsein in der Erwachsenenbildung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
Geertz, C. (Hrsg.). (1983). Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Göhlich, M., Weber, S. M., Schröer, A. et al. (2014). Forschungsmemorandum Organisationspädagogik. Berlin: DGfE.
Koselleck, R. (2000). Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Meyer-Drawe, K. (1989). Lebenswelt. In D. Lenzen & F. Rost (Hrsg.), Pädagogische Grundbegriffe (Bd. 2: Jugend bis Zeugnis, 4. Aufl., S. 923–930). Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Schäffter, O. (2001). Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. Zur Grundlegung einer Theorie der Institutionalisierung. Baltmannsweiler: Schneider.
Soeffner, H.-G. (2004). Auslegung des Alltags. Der Alltag der Auslegung (2., durchges. u. erg. Aufl., utb 2519). Konstanz: UVK.