Zielgruppenorientierung

Carola Iller

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-306

Die Z. gehört zu den zentralen Konzepten einer erwachsenengerechten Didaktik und zielt darauf ab, unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Lebenslagen von Erwachsenen bei der Planung und Durchführung von Lehr-Lern-Prozessen zu berücksichtigen. Schiersmann (1999) unterscheidet drei Ansätze der Z.: (1) eine lernpsychologische Perspektive mit dem Ziel einer Homogenisierung der Lerngruppen, (2) eine bildungs- und sozialpolitische Perspektive mit dem Ziel eines Abbaus von Benachteiligung und (3) eine politisch akzentuierte Perspektive, in der Lernen und politisches Handeln im Sinne eines Empowerments verbunden werden. Von Z. im engeren Sinne wird gesprochen, wenn mit der didaktischen Planung und Durchführung von Bildungsprogrammen (Programme;Programmplanung) bildungsbenachteiligte Lernende erreicht werden sollen.

Die Z. kann somit als eine Weiterentwicklung der Adressatenorientierung oder als „Bindeglied“ (Schäffter, 1981) zwischen Adressatenforschung und Teilnehmerorientierung angesehen werden. Während Teilnehmerorientierung erst stattfinden kann, wenn sich Menschen für eine Teilnahme entschieden haben, setzt die Adressatenforschung und die Z. bereits bei der Planung und Öffentlichkeitsarbeit an. Dies ist v. a. dann wichtig, wenn Zielgruppen erreicht werden sollen, die bislang nicht an Weiterbildung teilnehmen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass bei der Planung und Durchführung von Bildungsangeboten die jeweilige Lebenssituation, subjektiven Lernerfahrungen (Er­fahrungen – Erfahrungsorientierung) sowie die daraus resultierenden Problem- und Inte­ressenslagen der adressierten Personen berücksichtigt werden müssen, um eine Teilhabe an Weiterbildung zu ermöglichen (Iller, 2009). Z. setzt deshalb dort an, wo normativ eine Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung im Sinne einer Benachteiligung konstatiert wird. Dabei werden soziale Faktoren (wie soziales Milieu und sozialer Status der Herkunftsfamilie, Erwerbslosigkeit, Migrationsgeschichte) und individuelle Faktoren (wie Bildungsbiografie, Lernsozialisation, Alter, Geschlecht) unterschieden. Ausgehend von dieser Zuschreibung werden bei der Z. strukturelle Barrieren und mögliche Lernhindernisse erfasst und unter Beteiligung der potenziellen Teilnehmenden angemessene Lehr-Lern-Formen erarbeitet.

Mader und Weymann (1979) schlagen vor, diesen Prozess der Zielgruppenentwicklung in Phasen zu gliedern: Nachdem eine gruppenbezogene Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung identifiziert und eine Benachteiligung konstatiert wurde, werden mögliche Hindernisse zunächst von den Planenden und Lehrenden in der Erwachsenen- und Weiterbildung antizipiert. Im Weiteren wird ein vorläufiges, kritisierbares und veränderbares Angebot geplant und mit den potenziellen Teilnehmenden diskutiert. Dabei werden die Annahmen der Planenden mit den Erwartungen und Bedürfnissen der adressierten Personen konfrontiert. Das vorläufige Ergebnis dieses Aushandlungsprozesses ist ein an den Lernzielen der potenziellen Teilnehmenden und nicht an den Lehrzielen der Bildungseinrichtung oder der Lehrpersonen ausgerichteter Unterricht. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, ist von entscheidender Bedeutung, dass im Zuge der Zielgruppenentwicklung ein Perspektivwechsel in Richtung einer Ermächtigung der Zielgruppe stattfindet. Mader und Weymann (ebd., S. 352) bezeichnen dies als Wechsel in den „Paradigmen“. Von Z. kann demnach erst dann gesprochen werden, wenn nicht nur die Institution eine normative Zuschreibung von sozialen Defiziten oder Merkmalen vornimmt, sondern die Betroffenen selbst aufgrund ihrer subjektiven Problemsicht eine Bildungsmotivation (Weiterbildungsmotivation) entwickelt haben.

Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. kreisten konzeptionelle Debatten über eine erwachsenengerechte Didaktik darum, wie mit der Diversität von erwachsenen Lernenden und insb. mit der Lebens- und Arbeitssituation der sozial benachteiligten Bevölkerung professionell umzugehen ist. Diese mikrodidaktischen Ansätze wurden Ende der 1960er bzw. zu Beginn der 1970er Jahre aufgegriffen und durch makrodidaktische Arbeiten erweitert. Dies war durch den historischen Kontext bedingt: Durch den sog. Sputnik-Schock ausgelöst wurde in der allgemeinen Bildungsreform der 1970er Jahre auch der Beitrag der Weiterbildung zu ökonomischem Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit postuliert und Gesetze zu ihrer Förderung erlassen sowie spezifische Programme zur Unterstützung einzelner Zielgruppen beschlossen. Ab Mitte der 1970er Jahre stand nicht mehr primär die Verbesserung der Zugangschancen zu Bildung und höherem gesellschaftlichem Status im Vordergrund; vielmehr wurde die Beziehung zwischen Einrichtungen bzw. Personal und den Teilnehmenden zum Gegenstand der Reformbemühungen. Für die Z. ist dabei kennzeichnend, dass beide didaktischen Handlungsebenen enthalten sind: Z. ist sowohl eine Kategorie der Programmplanung als auch eine Kategorie, bei der mikrodidaktische Implikationen (z. B. Situationsorientierung, Lebensweltbezug, psychosoziale Arbeitsformen) beachtet werden (Schäffter, 1981).

Mit der „antizipierenden Teilnehmerorientierung“ hat Tietgens (1980) in den 1980er Jahren einen weiteren Impuls zur Z. gegeben. Diese knüpft an den Bemühungen zur Gewinnung von Teilnehmenden an, bezieht diese aber explizit auf die Mikroebene von Lehr-Lern-Prozessen. Nicht nur im Vorfeld, sondern auch in der konkreten Seminar­situation sollen die Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmenden einbezogen werden. Dies setzt voraus, dass die Lernbedürfnisse der Teilnehmenden bereits in der Planung vor Beginn des Kurses berücksichtigt und die Planungen schließlich während des Kurses zur Diskussion gestellt werden. Dabei wird die Bedeutung von inhaltlicher, didaktischer Planung betont und damit eine deutliche Gegenposition zu dem in der Praxis dominierenden Verständnis von Teilnehmerorientierung als einem methodischen Prinzip (Methoden) eingenommen (ebd.). Eine wichtige Erkenntnis aus der Z. ist zudem, dass makrodidaktische Entscheidungen im Widerspruch zu mikrodidaktischen Zielen stehen können. Besonders schwerwiegend zeigt sich dies bei Kursen, zu denen die Teilnehmenden nur formell freiwillig kommen (struktureller Zwang) und teilnehmeraktivierende Lernverfahren zu einem repressiven Instrumentarium der Lehrenden werden können (Schäffter, 1981).

Die Umsetzung der Z. erfordert jedoch Zeit und ein erwachsenenpädagogisches Handeln, das vielfach von den Lehrenden nicht geleistet werden kann. Die intensive Auseinandersetzung mit den sozial und bildungsbenachteiligten Zielgruppen geht über das traditionelle Aufgabenverständnis von Lehrtätigkeit hinaus und rückt die Bildungsarbeit in die Nähe von Sozialer Arbeit und Therapie. Zudem ist der gemeinsame Aushandlungsprozess nur möglich, wenn Einrichtungspersonal und Zielgruppen über einen längeren Zeitraum zusammenarbeiten. Die gemeinsame Entwicklung von Bildungsprogrammen im Dialog mit den Zielgruppen wird deshalb nur in Teilbereichen der Erwachsenen- und Weiterbildung realisiert, bspw. in den mehrwöchigen Lehrgängen der Heimvolkshochschulen, die allerdings nur einen kleinen Teil der Veranstaltungsangebote ausmachen.

Hinzu kommt, dass sich die finanzielle Förderung von Weiterbildung i. d. R. an Teilnahmestunden oder -tagen ausrichtet und damit v. a. Angebote für bereits Interessierte unterstützt. Die zeitaufwändige Z. wird meist nur im Rahmen von Sonderprogrammen und Modellprojekten realisiert. Als ein Problem der Z. muss deshalb konstatiert werden, dass sie zwar konzeptionell gut ausgearbeitet ist, aber in der Praxis nicht weiträumig umgesetzt werden konnte.

Ein weiterer Kritikpunkt an der Z. bezieht sich auf die mangelnde Differenziertheit der Beschreibung von Zielgruppen. Angesichts der Ausdifferenzierung von individuellen Lebenslagen lassen sich soziale Benachteiligungen kaum mehr eindeutig an dauerhaften und sozial-strukturellen Faktoren festmachen. Insofern ist die bildungswissenschaftliche Milieuforschung als eine Weiterentwicklung anzusehen. In diesem Verständnis ist Bildungsbeteiligung nicht nur aus den „objektiven“ sozial-strukturellen Gruppenmerkmalen zu verstehen, sondern ergibt sich aus den milieuspezifischen Werthaltungen und Einstellungen zu Bildung. Die milieuspezifische Lebensführung ist abhängig von Einkommen, Alter, Beruf usw. zu sehen, lässt sich aber auch nicht darauf reduzieren. Die Z. könnte sich vor diesem Hintergrund differenzierter an benachteiligten Milieus als an sozial-strukturellen Kategorien ausrichten.

Kritik an der Z. wird auch in Hinblick darauf geübt, dass dem Ansatz eine Defizitperspektive zugrunde liege, die mit der Definition von „Zielgruppe“ einhergehe. Dies sei umso problematischer, als die benachteiligten Gruppen zunächst nur als statistisch ermittelte Merkmalsträger existierten. Diese Einwände sind berechtigt, doch sprechen sie nicht gegen den Anspruch an gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe als Ziel von Bildung und Beratung über die gesamte Lebensspanne. Ein wesentlicher Impuls zur theoretischen Weiterentwicklung könnte deshalb von den bildungspolitischen Diskussionen um Inklusion ausgehen (UNESCO, 2014), die mittlerweile auch in der Erwachsenenbildung Resonanz finden. Damit könnte Benachteiligung als Vorstufe von sozialer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Isolation ernst genommen werden. Weiterbildung kann demgegenüber einen Beitrag zum Aufbau sozialer Beziehungen und relativer Gemeinsamkeit von Lebensentwürfen und Daseinsinterpretation leisten (Mader & Weymann, 1979).

In den letzten Jahren hat die Z. wieder an Bedeutung gewonnen; v. a. im Kontext der Europäischen Agenda Erwachsenenbildung wurde der gezielten Förderung benachteiligter Gruppen eine hohe Relevanz eingeräumt. Bislang wird jedoch die Auswahl und Gewichtung von Merkmalen sozialer Benachteiligung in der Erwachsenen- und Weiterbildung nicht diskutiert, sondern offenbar ein allgemein geteilter Konsens über die relevanten Kriterien – Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, Migration – unterstellt. Dadurch werden die Mechanismen der Herstellung mit der Beschreibung der Erscheinungsformen von sozialer Ungleichheit vermischt. Alter, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit und Herkunft sind zwar Merkmale ungleicher Bildungsteilhabe; diese Merkmale verdecken aber die dahinterliegenden Machtverhältnisse, die Ungleichheit produzieren. Um diesen Verdeckungszusammenhang aufzulösen, ist eine Analyse der Wechselwirkungen und Widersprüche notwendig, wie sie seit einigen Jahren im Diskurs um Intersektionalität stattfindet. Eine Weiterentwicklung der Z. wäre dann auf eine fundierte Ungleichheitsforschung in der Erwachsenen- und Weiterbildung angewiesen.

Literatur

Deutsche UNESCO-Kommission. (2014). Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik (3., erw. Aufl.). Bonn: DUK.

Iller, C. (2009). Zielgruppen. In T. Fuhr, P. Gonon & C. Hof (Hrsg.), Handbuch Erziehungswissenschaft (Bd. 2: Erwachsenenbildung/Weiterbildung, S. 987–997). Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Mader, W. & Weymann, A. (1979). Zielgruppenentwicklung, Teilnehmerorientierung und Adressaten­forschung. In H. Siebert (Hrsg.), Taschenbuch der Weiterbildungsforschung (S. 346–376). Baltmannsweiler: Schneider.

Schäffter, O. (1981). Zielgruppenorientierung in der Erwachsenenbildung. Aspekte einer erwachsenen­pä­da­go­gi­schen Planungs- und Handlungskategorie. Braunschweig: Westermann.

Schiersmann, C. (1999). Zielgruppenforschung. In R. Tippelt (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung (2. Aufl., S. 557–565). Opladen: Leske + Budrich.

Schiersmann, C. (1992). Zielgruppenarbeit – kritisch weitergedacht. In E. Nuissl, H. Siebert, J. Weinberg & H. Tietgens (Hrsg.), Report. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung (Bd. 30, S. 40–45). Frankfurt a. M.: PAS DVV.

Tietgens, H. (1980). Teilnehmerorientierung als Antizipation. In G. Breloer, H. Dauber & H. Tietgens (Hrsg.), Teilnehmerorientierung und Selbststeuerung in der Erwachsenenbildung (S. 177–235). Braunschweig: Westermann.

Zertifikate – Abschlüsse
Zweiter Bildungsweg