Transformative Erwachsenenbildung

Thomas Fuhr

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-273

Die t. E. geht auf die Theorie des transformativen Lernens zurück, die ab den 1970er Jahren in den USA von Jack Mezirow entwickelt wurde. Mit dieser Theorie wird ein Prozess beschrieben, bei dem ein Mensch seine bisherigen Denkweisen und -gewohnheiten als solche erkennt, kritisch hinterfragt und durch Lernprozesse verändert. Es geht somit nicht um ein Lernen im Sinne einer Erweiterung von Wissen und Fähigkeiten, sondern um eine grundlegende qualitative Veränderung von Denkweisen und folglich auch um eine Verhaltensänderung.

Personen erlernen im Verlauf ihrer Sozialisation vom Kind zur erwachsenen Person, beeinflusst von ihrer Lebenswelt (z. B. Familie, Freundschaftsgruppen, Institutionen, Medien), sog. Deutungsschemata. Mezirow unterscheidet zwei Arten von Schemata: (1) Konkrete points of view (meaning schemes) umfassen spezifische Annahmen und Überzeugungen, die der Interpretation von Erfahrungen dienen und beim Handeln benutzt werden. (2) Abstrakte, umfassende habits of mind (meaning perspectives) verbinden einzelne meaning schemes zu übergreifenden Deutungsmustern. Points of view und habits of mind bilden zusammen Referenzrahmen (frames of reference) zur Deutung der Welt.

Habits of mind steuern die Art und Weise, wie eine Person sich und die Welt betrachtet. Zu ihnen gehören z. B. epistemische Überzeugungen, Geschmacksurteile und Selbstkonzepte. Sie beeinflussen das Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wollen und Handeln. Wie sie das tun, ist den Personen nicht vollständig bewusst; habits of mind sind reflexiv schwer zugänglich.

Die einmal erworbenen habits of mind können in neuartigen Situationen zu verzerrten Interpretationen oder Widersprüchen im Denken und zu Handlungskonflikten führen, sodass sich betreffende Personen in einem „desorientierenden Dilemma“ zwischen den bewährten meaning schemes und den neuen Herausforderungen befinden. In diesem Fall kann es sein, dass sie nicht nur ihre meaning schemes, sondern auch ihre habits of mind kritisch hinterfragen. Sie reflektieren, ob es alternative Rahmungen gibt, die ihnen erlauben, die neuen, irritierenden Erfahrungen in ihr dann geändertes Denken zu integrieren.

Wird das neue Denken in einem anschließenden längeren Prozess handelnd ausprobiert, ausdifferenziert und schließlich habitualisiert, erfolgt transformatives Lernen. Die Person entwickelt sukzessive neue Kompetenzen und Selbstvertrauen. Nach dem Stand der empirischen Forschung wird dieser Prozess erleichtert, wenn er von Personen unterstützt wird, welche die anfängliche Desorientierung anerkennen, die lernende Person bei der kritischen Prüfung ihrer habits of mind helfen, sie darin bestärken, Zweifel und Gefühle von Schuld und Scham zu überwinden und etwas Neues auszuprobieren.

Nach Mezirow ist zur kritischen Reflexion der eigenen habits of mind ein Diskurs erforderlich. Obwohl er die Diskurstheorie von Jürgen Habermas nutzt, unterscheiden sich die beiden Diskursbegriffe voneinander. Im Diskurs zu den problematischen habits of mind geht es nicht darum, Geltungsansprüche für Aussagen zu begründen und nach Wahrheit zu suchen. Vielmehr ist der Diskurs eine gemeinsame Suche nach neuen Deutungsweisen, die zu neuen Handlungsoptionen führt. Letztlich geht es um die Entwicklung neuer Handlungsmöglichkeiten.

Die transformative Lerntheorie wurde empirisch verwendet, um komplexe Lernprozesse zu erklären und zu beschreiben, z. B. wenn Eltern in den ersten Jahren ihrer Elternschaft ihre Perspektiven auf das Kind und ihr Eltern-Selbst transformieren oder wenn Frauen, die nach Deutschland migriert sind, sich nach frustrierenden Erfahrungen bei der Stellensuche auf ihre Kompetenzen besinnen, ihr Denken über Beruflichkeit transformieren und sich beruflich selbstständig machen. In der Bildungspraxis wird sie genutzt, um Umlernprozesse bei Lernenden anzuregen, bspw. wenn es in der Hochschule darum geht, dass Studierende ihr Alltagsverständnis von einem Lerngegenstand kritisch hinterfragen. Schließlich wird sie rezipiert, um Lern- und Bildungsprozesse im Rahmen gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu untersuchen und anzustoßen, bspw. hinsichtlich einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (Nachhaltigkeit; Umweltbildung).

Eine Nähe besteht zur Theorie der transformatorischen Bildung. Transformatorische Bildung ist die Veränderung grundlegender Selbst- und Weltbezüge einer Person. Dieses Konzept wurde in Deutschland v. a. von Hans-Christoph Koller entwickelt. Es ist eine allgemeinpädagogische Bildungstheorie, die sich auch, aber nicht nur, auf die Bildung Erwachsener bezieht. Die Theorie des transformativen Lernens versteht Transformation als schwierigen Prozess, der mit einer Krise im Denken und Handeln einhergeht. Die Theorie der transformatorischen Bildung dagegen konzipiert Transformation als nicht-disruptive Resignifizierung (nach Judith Butler). Das Denken und der Habitus werden durch allmähliche Verschiebungen von Bedeutungen in sich ändernden Kontexten geändert.

Literatur

Fuhr, T. (2018). Lernen im Lebenslauf als transformatives Lernen. In C. Hof & H. Rosenberg (Hrsg.), Lernen im Lebenslauf. Theoretische Perspektiven und empirische Zugänge (S. 84–103). Wiesbaden: Springer VS.

Laros, A., Fuhr, T. & Taylor, E. W. (Hrsg.). (2017). Transformative learning meets Bildung. An international exchange. Rotterdam (NL): Sense.

Mezirow, J. (1991). Transformative dimensions of adult learning. San Francisco: Jossey-Bass (dt. Ausg. (1997). Transformative Erwachsenenbildung. Baltmannsweiler: Schneider).

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