Thüringer Richtung der Erwachsenenbildung

Martha Friedenthal-Haase

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-272

Die T. R. der Erwachsenenbildung ist eine regionalspezifische Ausprägung der freien Volksbildung im Rahmen der sog. Neuen Richtung der Erwachsenenbildung der Weimarer Republik. Mit dem Begriff wird zum einen die Gegebenheit einer charakteristischen kulturräumlich-regionalen Entwicklung dieser Epoche bezeichnet und zum anderen das explizite didaktische Selbstverständnis prominenter Thüringer Erwachsenenbildnerinnen und -bildnern, besonders in Abgrenzung zur sog. Berliner Richtung.

Organisatorische Grundlage war der im Jahr 1919 gegründete Personal- und Institutionenverband Volkshochschule Thüringen, in dessen Satzungsentwicklung sich Grundpositionen der T. R. der Erwachsenenbildung spiegeln. Das publizistische Forum der T. R. der Erwachsenenbildung als solcher war das Verbandsorgan „Blätter der Volkshochschule Thüringen“ (1919–1933, Nachdruck 1999). Signifikant für die T. R. der Erwachsenenbildung sind die didaktischen Schriften von Thüringer Erwachsenenbildnerinnen und -bildnern der 1920er Jahre, in erster Linie von Reinhard Buchwald (1884–1983), Wilhelm Flitner (1889–1990), Adolf Reichwein (1898–1944), Eduard Weitsch (1883–1955) und Franz Angermann (1886–1939) sowie zeitweise auch Herman Nohl (1879–1960) und Gertrud Hermes (1872–1942). Zu den für die Entwicklung der T. R. der Erwachsenenbildung maßgeblichen Förderern gehörten der Verleger Eugen Diederichs (1867–1930), die Universität Jena, insb. durch die Hochschullehrer Wilhelm Rein (1847–1929) und Heinrich Weinel (1874–1936), sowie die Carl-Zeiss-Stiftung Jena. Besondere Voraussetzungen für den Aufschwung der Erwachsenenbildung hatte das Land Thüringen mit frühzeitiger (ab 1920) regelmäßiger Teilfinanzierung der Netzwerkarbeit geschaffen (Netzwerke – Kooperationen).

Die T. R., die kein einheitliches System der Erwachsenenbildung darstellt und im Verlauf der 1920er Jahre auch Wandlungen unterlag, lässt sich gleichwohl durch einige Merkmale charakterisieren. Gemeinsam war allen ihren Vertreterinnen und Vertretern die Idee der Neutralität einer freien, unabhängigen und bürgerschaftlichen Erwachsenenbildung, organisiert nach dem Prinzip der Selbstverwaltung und innerverbandlichen Demokratie unter Beteiligung von Fachleuten der Erwachsenenbildung und Laien, didaktisch verwirklicht mit entschiedener und konsequenzenreicher Ablehnung jeder Indoktrination, ideologischen Lenkung und weltanschaulichen Formung. Gegenüber der Berliner Richtung, wie sie fachpublizistisch v. a. von Werner Picht (1887–1965) und Robert von Erdberg (1866–1929) vertreten wurde, setzte die T. R. der Erwachsenenbildung u. a. folgende regionalspezifische Akzentuierung: Vereinsform statt kommunaler Volkshochschule (vhs), Netzwerkbildung und Anspruch flächendeckender Versorgung, Integration aller Erwachsenenbildungsaktivitäten in die vhs, Lebensbildung als Lehrplanprinzip (Lebenswelt), Vielseitigkeit der Bildung unter Betonung des Künstlerischen, Kultivierung eines eigenen reformerischen Lebensstils, inspiriert durch die Jugendbewegung, besondere Hochschätzung des Typus der dänischen Heimvolkshochschule, Pflege eigener Bildungsformen, insb. der Feste, der sog. Bildungswochen und später der großen Auslandsreisen.

Die T. R. der Erwachsenenbildung in den 1920er Jahren (so im Hohenrodter Bund) war in einigen ihrer Erscheinungsformen und Ideen durchaus kontrovers (insb. mit Blick auf Wilhelm Flitners neuromantisch inspirierter Schrift „Laienbildung“ von 1921) und zeitweise heftiger Kritik seitens der weltanschaulich und parteipolitisch gebundenen Erwachsenenbildung ausgesetzt. In der Bewertung wird oft nicht nur die Vielgestaltigkeit und Niveauhöhe der T. R. der Erwachsenenbildung übersehen, sondern auch ihr Beitrag zur frühen Theoriebildung, Professionalisierung und Akademisierung. In den 1990er Jahren bahnte sich ein neues Verständnis für die Leistung dieses Ansatzes an, dessen Hauptverdienst im Aufbau eines flächendeckenden Netzwerks, in der beispielhaften Realisierung der Idee der lernenden Region auf weitgehend hohem Qualitätsniveau und in der inhaltlich anspruchsvollen Vermittlung eines fachlichen Images – gewissermaßen einer Corporate Identity eines regionalen Erwachsenenbildungsverbands – zu sehen sein dürfte.

Literatur

Friedenthal-Haase, M. & Meilhammer, E. (1999). Volkshochschule – Bewegung, Organisation, Kommunikation. Einleitung zum Nachdruck der „Blätter der Volkshochschule Thüringen“ 1919–1933. In M. Frieden­thal-Haase & E. Meilhammer (Hrsg.), Blätter der Volkshochschule Thüringen (1919–1933) (Bd. I, S. XI–XXXIX). Hildesheim: Olms.

Nohl, H. (1999 [1920]). Berliner oder Thüringer System? In M. Friedenthal-Haase & E. Meilhammer (Hrsg.), Blätter der Volkshochschule Thüringen (1919–1933) (Bd. I, S. 137–138). Hildesheim: Olms.

Reimers, B. I. (2003). Die Neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933 (zugl. Diss., Univ. Tübingen, 2000). Essen: Klartext.

Theorie und Praxis
Transformative Erwachsenenbildung