Subjektorientierung

Joachim Ludwig

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-261

S. ist ein Begriff der Didaktik, der im Spannungsfeld von lernendem Subjekt und fachlichem Wissen den Ausgangspunkt des didaktischen Handelns beim Subjekt und der Entwicklung seines Welt- und Selbstverhältnisses sieht. S. gilt als lernwirksam, weil die Interessen und Sinnhorizonte des Subjekts im Vordergrund stehen.

S. kann als eine bildungstheoretische Maxime verstanden werden, die seit der Aufklärung eine wichtige Rolle spielt und mit der Diskussion neuer Lernkulturen wieder aktuell wird. Im Zuge der Aufklärung erhielt die Bildung zum mündigen, selbstbestimmten Subjekt einen zentralen Stellenwert in der Pädagogik und in der Gesellschaft. Für Immanuel Kant war Bildung das Mittel zur Menschwerdung. Vor dem Hintergrund dieser Intention muss im didaktischen Handeln immer abgewogen werden, inwiefern das fachliche Wissen sowie die gesellschaftlichen Werte und Normen als unverrückbare Wahrheiten dem Subjekt zur Aneignung abverlangt werden oder inwiefern im Sinne der S. das biografisch erworbene Erfahrungswissen der lernenden Subjekte den Ausgangspunkt bildet (Erfahrungen – Erfahrungsorientierung). Damit steht S. im Spannungsverhältnis von Unterwerfung unter gesellschaftliche Anforderungen (Kompetenz; Qualifikation) und Befreiung des Subjekts aus gesellschaftlichen Zwängen.

Was S. im Einzelfall bedeutet, lässt sich erst mit Blick auf die jeweilige theoretische Vorstellung von „Subjektivität“ verstehen, die hier exemplarisch an vier Subjektmodellen skizziert wird:

  1. Aus der Perspektive der kritischen Theorie bezieht sich S. auf die Entwicklung zum Subjekt. Dabei gilt es, deren Bedingtheit durch die Gesellschaft transparent zu machen und so insb. die Funktionalität des Subjekts in der totalen Marktgesellschaft zu berücksichtigen (Meueler, 2009).
  2. In der konstruktivistischen Didaktik (Konstruktivismus) wird das Subjekt als ein selbstreferenzielles System betrachtet (Arnold, 1996), das operational geschlossen ist und einer Eigenlogik folgt. S. meint hier die Anerkennung dieser Eigenlogik, deren Verstehen den Lehrenden nicht möglich ist. Denn gelernt wird immer nur das, was individuell anschlussfähig ist (Anschlusslernen).
  3. Aus einer poststrukturalistischen Perspektive (Forneck, 2005) bedeutet S. die Unterstützung der Selbstsorge des Subjekts. Gemeint ist damit eine Selbstreflexion, in der das Subjekt die Chance hat, sich der gesellschaftlichen Situation gewahr zu werden und den Prozess des Abgleichens zwischen Subjekt und Objekt bewusst wahrzunehmen.
  4. Das Modell S. als Verstehen des Standpunkts des lernenden Subjekts geht auf die Arbeiten von Klaus Holzkamp zurück (expansives Lernen). S. bedeutet hier, den biografischen (Biografie) und gesellschaftlichen Standpunkt des lernenden Subjekts mit seinen Handlungsproblematiken und den damit verbundenen Lerninteressen bzw. Lernwiderständen zu verstehen (Ludwig, 2022).

Für das didaktische Handeln in der Erwachsenen- und Weiterbildung resultieren aus diesen Subjektmodellen unterschiedliche Konsequenzen. Erhard Meueler schlägt einen Lehr-Lern-Vertrag vor, mit dem die Interessen der Lernenden und die kritischen Per­spek­ti­ven der Lehrenden gleichermaßen aufgegriffen werden. Rolf Arnold plädiert für Lernumgebungen in einem didaktischen Rücknahmemodell wie der Ermöglichungsdidaktik. Für Hermann J. Forneck sind Selbstlernarchitekturen das didaktische Mittel der Wahl. Joachim Ludwig sieht die Möglichkeit zur S. in Lernberatungsprozessen gegeben (Beratung im Kontext lebenslangen Lernens).

Literatur

Arnold, R. (1996). Deutungslernen in der Erwachsenenbildung. Grundlinien und Illustrationen zu einem konstruktivistischen Lernbegriff. Zeitschrift für Pädagogik, 42(5), 719–730.

Forneck, H. J. (2005). Selbstsorge und Lernen – Umrisse eines integrativen Konzepts selbstgesteuerten Lernens. In H. J. Forneck, U. Klingovsky & P. Kossack (Hrsg.), Selbstlernumgebungen. Zur Didaktik des selbstsorgenden Lernens und ihrer Praxis (S. 6–48). Baltmannsweiler: Schneider.

Ludwig, J. (2022). Subjektorientierung in der Erziehungswissenschaft. Am Beispiel der Erwachsenenbildung. In F. Schweitzer, B. Schröder, E. Naurath, S. Altmeyer, B. Grümme & H. Kohler-Spiegel (Hrsg.), Religion subjektorientiert erschließen (Jahrbuch der Religionspädagogik, Bd. 38). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Meueler, E. (2009). Die Türen des Käfigs. Wege zu einer subjektorientierten Erwachsenenbildung. Baltmannsweiler: Schneider.

Studium der Erwachsenen- und Weiterbildung
Supervision