Raum

Ekkehard Nuissl

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-240

In der Erwachsenenbildung ist R. ein Begriff, der in den vergangenen drei Dekaden an Bedeutung gewonnen hat. Im wissenschaftlichen Diskurs enthält er mehrere Facetten, in denen teilweise ein Bezug zu spezifischen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Raumwissenschaft hergestellt wird. Die Diskussion zu Lernorten hat sich, nach einem sog. spatial turn in den Sozialwissenschaften, auf eine Diskussion zu Bildungslandschaften und Lernräumen (Lernlandschaften) erweitert. Damit besteht die Gefahr, dass es beliebig wird, Lernen – das immer in räumlich-zeitlichen Dimensionen stattfindet – „verorten“ zu wollen. Umso kritischer ist dies zu sehen, als mit dem erweiterten Blick auf das informelle Lernen (formale – non-formale – informelle Bildung), das meist außerhalb von Bildungsorganisationen und organisierten Bildungsprozessen stattfindet, die Frage nach dem R. geradezu grenzenlos wird. Somit geht es darum, die Relevanz des Begriffs R. für das Lernen präzise zu bestimmen.

Den Beginn einer raumorientierten Sicht des Lernens markiert der Begriff „Lernorte“ in den 1970er Jahren. Vom Deutschen Bildungsrat wurde im Jahr 1974 in Abgrenzung zur Schule auf Lernorte wie Betrieb, Lehrwerkstatt, Studio, Museum und Theater verwiesen. Wichtig war dabei nicht das Lernen an einem anderen Ort, sondern die andere Qualität des Lernens an den jeweiligen Orten im Vergleich zur Schule. Im Lernort Museum (Museumspädagogik) können Kunstwerke, historische Artefakte, Maschinen haptisch und konkret gelernt werden; im Lernort Betrieb (Lernen am Arbeitsplatz) das kognitiv Erarbeitete praktisch umgesetzt oder als Erfahrung angeeignet werden; im Theater, insb. Bertolt Brechtscher Prägung, können soziale Zusammenhänge und menschliches Verhalten beobachtet und verstanden werden. Die besondere Qualität der Lernorte lag also im Ermöglichen komplexerer pädagogisch-didaktischer Herangehensweisen. Das informelle Lernen spielte in dieser Phase noch keine Rolle in der Diskussion. Die Lernort-Theorie und -Praxis in diesem Sinne besteht nach wie vor, insb. mit Blick auf die Zusammenarbeit von Schulen und Betrieben.

In den 1990er Jahren erweiterte sich die raumbezogene Diskussion auf Bildungslandschaften. Es ging nicht mehr nur um eine meist bilaterale Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen zur Ermöglichung von Lernen, sondern um eine komplexe Struktur von vernetzten Einrichtungen (Netzwerke – Kooperationen), die einen je spezifischen Beitrag zum Lernen leisten. Die räumliche Dimension dieser Netzwerke stand dabei im Vordergrund; der Begriff der „Landschaft“ sollte die Begeh- und Erfahrbarkeit dieses Raums im Kontext von Lernen betonen. Auch wurde die Bedeutung von Weiterbildung als Standortfaktor betont. In vielfältigen Modellen und Initiativen entwickelten die Bildungslandschaften eine eigene Qualität der Verbindung von Orten intentionalen Lernens, die in ihrer Gesamtheit zu einem Konzept von „lernenden Regionen“ beitrugen (Erwachsenenbildung in der Region).

Der eigentliche spatial turn fand in der Erziehungswissenschaft jedoch erst mit Beginn des 21. Jh. statt, indem die Vorstellung des Raums als soziales, relationales Produkt Eingang in bildungswissenschaftliche Diskurse fand (Bildungsforschung). Klassenzimmer in der Schule genauso wie Schlafzimmer zu Hause galten als kulturelle Konstruktionen, die die individuelle Konzeption von Umwelt vergegenwärtigen. Sie wurden nicht mehr –
wie früher – als eine Art „Container“ verstanden, den es zu füllen gilt und den man füllen kann, sondern als eine selbst geschaffene Umwelt (Lebenswelt), die ein in­te­gra­ler Bestandteil des Geschehens ist (Nuissl & Nuissl, 2015). Räume waren somit Rahmungen des Leiblichen, die mit diesem in einer dynamischen Wechselbeziehung stehen. In der Bildungsdiskussion wurde dabei vielfach auf die Hamburger Studien von Martha Muchow und Hans H. Muchow zum „Lebensraum des Großstadtkindes“ aus dem Jahr 1935 zurückgegangen. Räume sind danach materielle Kontexte und soziale Konstrukte gleichzeitig; sie sind Bedingungen des Wahrnehmens, Handelns und Lernens, das sie begünstigen oder verhindern in der Weise, wie sie erlebt und gelebt werden (Sozialraumorientierung) (Mania, 2018). Dieser relationale Ansatz des Verständnisses von R. ermöglicht es heute, im Zeitalter des globalen und digitalen Lernens, nicht nur physische, sondern auch virtuelle Dimensionen des Raums mit lerntheoretischen Ansätzen differenziert zu verknüpfen.

Eine erweiterte Perspektive auf die Dimension des Raums wird mittlerweile in der Verbindung mit Zeit diskutiert (Schmidt-Lauff, Schreiber-Barsch & Nuissl, 2019). Dabei geht es nicht nur um die Zeit des Lernens, sondern auch um die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in raumzeitlicher Perspektive. In der Gegenwart, in bestehenden Räumen, wird Vergangenes zur Bewältigung der Zukunft gelernt.

Literatur

Bernhard, C., Kraus, K., Schreiber-Barsch, S. & Stang, R. (Hrsg.). (2015). Erwachsenenbildung und Raum. Theoretische Perspektiven – professionelles Handeln – Rahmungen des Lernens (Reihe Theorie und ­Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 28). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Hessischer Volkshochschulverband. (Hrsg.). (2013). Hessische Blätter für Volksbildung, 63(3). Thema: Lernräume und Lernorte. Bielefeld: W. Bertelsmann.

Nuissl, E. & Nuissl, H. (Hrsg.). (2015). Bildung im Raum (Reihe Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung, Bd. 80). Baltmannsweiler: Schneider.

Mania, E. (2018). Weiterbildungsbeteiligung sogenannter „bildungsferner Gruppen“ in sozialraumorientierter Forschungsperspektive (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 39). Bielefeld: wbv Publikation.

Schmidt-Lauff, S., Schreiber-Barsch, S. & Nuissl, E. (2019). Editorial. Zur Verschränkung von Zeit und Raum in der Theorie und Empirie der Erwachsenenbildung: RaumZeit in der Erwachsenenbildung. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung, 42(2), 157–163.

Rat der Weiterbildung – KAW
Recht der Weiterbildung