Politische Bildung

Wolfgang Sander

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-228

P. B. bietet Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zur persönlichen Bildung in der Auseinandersetzung mit Politik. In ihrem Rahmen werden u. a. Kompetenzen für die selbstständige, vernunftgeleitete politische Urteilsbildung sowie für politisches Handeln vermittelt. Bei der Analyse politischer Situationen, Fragen und Probleme rekurriert p. B. auf Erkenntnisse und Methoden der Sozialwissenschaften, insb. der Politikwissenschaft (politikwissenschaftliche Bildungsforschung) und der Soziologie. Wissenschaftliche Bezugsdisziplin für die Entwicklung ihres didaktischen und pädagogischen Selbstverständnisses ist die Politikdidaktik, deren wissenschaftlicher Diskurs in der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) organisiert wird. International wird die Diskussion über p. B. meist mit den Referenzbegriffen civic education oder citizenship education geführt.

Das Angebot von politischer B. für alle Bürgerinnen und Bürger ist nur in demokratischen Gesellschaften möglich, denn nur in diesen sind politische Urteils- und Handlungskompetenzen für die gesamte Bevölkerung erwünscht und nicht nur der Elite vorbehalten. Einrichtungen der politischen B. sind die einzigen für alle Bürgerinnen und Bürger offenen sozialen Orte, an denen Fragen des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens diskursiv erörtert werden können, ohne dass Handlungsdruck und Entscheidungszwänge entstehen und die Teilnehmenden auf vorgegebene politische Positionen festgelegt werden. Damit erbringt sie zugleich eine wichtige Dienstleistung für die demokratische Gesellschaft insgesamt.

In der Erwachsenen- und Weiterbildung in der Bundesrepublik Deutschland werden Veranstaltungen zur politischen B. von unterschiedlichen öffentlichen und privaten Trägern angeboten. Neben gesellschaftlichen Großorganisationen wie den Kirchen, den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften gibt es auch zahlreiche kleine Träger. Ein großer Teil der Träger hat sich im Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten zusammengeschlossen. Bei einigen Trägern (z. B. bei den parteinahen Stiftungen oder kirchlichen Akademien) spielt p. B. im Gesamtspektrum ihrer Angebote zur Erwachsenenbildung eine herausragende, bei anderen (z. B. den Volkshochschulen oder Sportverbänden) eine eher untergeordnete Rolle.

In Gestalt der Bundeszentrale und der Landeszentralen für p. B. existiert ein bedeutsames staatliches Unterstützungssystem, das u. a. kostenfreie Lernmaterialien für p. B. sowie Weiterbildungsangebote für das pädagogische Personal in der politischen B. zur Verfügung stellt (Weiterbildung der Weiterbildenden). Weiterhin unterstützt die Bundeszentrale Veranstaltungen zur politischen Erwachsenenbildung durch die Förderung der von ihr anerkannten Träger sowie von Modellprojekten zur politischen B. Weitere Fördermittel werden durch Sonderprogramme des Bundes bereitgestellt; bspw. finanzierte die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) das Modellprogramm Demokratie lernen und leben (2002 bis 2007). Vonseiten der Träger wird in diesem Kontext eine zunehmende Verlagerung von der Regel- zur Projektfinanzierung beklagt.

Im gesamten Weiterbildungssystem fallen Veranstaltungen explizit zur politischen B. zahlenmäßig nur gering ins Gewicht. Jedoch finden sich auch Aspekte der politischen B. in einer Vielzahl von Angeboten der Erwachsenenbildung mit anderen fachlichen Schwerpunkten, die gleichwohl politische Bezüge aufweisen (z. B. in den Bereichen der ästhetisch-kulturellen Bildung und der Gesundheitsbildung). Verlässliche Daten zum genauen quantitativen Ausmaß und zur fachlichen Qualität liegen jedoch nicht vor.

Der Trägerpluralismus in der politischen Erwachsenenbildung führt einerseits zu einem breiten und auf unterschiedliche Adressatengruppen bezogenen Angebot, erschwert andererseits aber die Entwicklung einer von den weltanschaulichen Hintergründen der Träger unabhängigen fachlichen Professionalität. Historisch spielt bei der Etablierung von politischen Lernangeboten für Erwachsene das Interesse der Träger, ihre weltanschaulichen und politischen Positionen in das eigene politisch-kulturelle Milieu wie in die Gesellschaft insgesamt zu kommunizieren, eine wichtige Rolle. Erst in der jüngeren Geschichte der politischen Erwachsenenbildung setzt sich die Erkenntnis durch, dass die fachliche Identität und Qualität der politischen B. eine pädagogische Autonomie gegenüber allen durch Trägerinteressen determinierten politisch-weltanschaulichen Vorgaben erfordert. Eine wichtige Rolle hierbei spielt der sog. Beutelsbacher Konsens, der 1976 als Ergebnis einer Fachtagung zunächst mit Blick auf schulische p. B. formuliert wurde (Schiele & Schneider, 1977), später aber zunehmend auch in der politischen Erwachsenenbildung Akzeptanz gefunden hat. Mit ihm wurden drei Grundprinzipien festgehalten: (1) das Überwältigungsverbot, mit dem Indoktrination im Sinne erwünschter Meinungen untersagt wird; (2) das Kontroversitätsgebot, nach dem das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch in der politischen B. als kontrovers erscheinen muss; und schließlich (3) das Ziel der Befähigung der Lernenden in der politischen B., politische Situationen und ihre eigene Interessenlage zu analysieren sowie diese Inte­ressen auch zu vertreten.

Zu den besonderen Herausforderungen der politischen B. gehören in jüngster Zeit die zunehmende öffentliche Relevanz extremistischer und populistischer Bewegungen. Intensiv diskutiert wird, ob und in welcher Weise p. B. hier präventiv wirken kann und wie genau in normativer wie in pädagogisch-praktischer Hinsicht in diesem Zusammenhang die Grenzen legitimer Meinungsvielfalt zu bestimmen sind. Als zunehmend pro­ble­ma­tisch zeigen sich ferner Diskurseinengungen (Diskurs) durch identitätspolitische Akteure, wenn – bspw. beim Problemfeld Rassismus und Rassismuskritik – einseitige Identifikation p. B. mit deren Sichtweisen gefordert und Diskursivität eingeschränkt wird (Sander, 2021). Auch in solchen Konflikten ist p. B. gefordert, im Interesse der Lernenden ihre Autonomie gegenüber Instrumentalisierungsversuchen zu verteidigen.

Literatur

Hufer, K.-P. & Lange, D. (Hrsg.). (2016). Handbuch politische Erwachsenenbildung. Schwalbach/Ts.: Wochen­schau.

Hufer, K.-P., Oeftering, T. & Oppermann, J. (Hrsg.). (2018). Wo steht die außerschulische Jugend- und
Erwachsenenbildung?
(Schriftenreihe der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung). Frankfurt a. M.: Wochenschau.

Sander, W. (2021) Identität statt Diskurs? Diskursivität in der politischen Bildung und ihre Gefährdungen. Pädagogische Rundschau, 75(1), 293–306.

Sander, W. & Pohl, K. (Hrsg.). (2022). Handbuch politische Bildung (5., vollst. überarb. Aufl.). Frankfurt a. M.: Wochenschau.

Schiele, S. & Schneider, H. (Hrsg.). (1977). Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart: Ernst Klett.

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