Malte Brinkmann
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-225
Phänomenologische Forschungen basieren auf einer Philosophie der → Erfahrung. „Zu den Sachen selbst“ – diese Losung des Begründers der P., Edmund Husserl (1859–1838), formuliert eine Skepsis gegen die Enge szientifischer Rationalität sowie verabsolutierten und universalisierten wissenschaftlichen Methoden und Konzepten. Die „phänomenologische Bewegung“ (Herbert Spiegelberg) versucht die widerborstige lebensweltliche Wirklichkeit (→ Lebenswelt) der leiblichen Erfahrung in ihren vielfältigen Artikulationsweisen sowohl theoretisch als auch empirisch in den Blick zu rücken (→ symbolischer Interaktionismus).
Während Husserl das intentionale → Bewusstsein als alleiniges Organ des Seins auszeichnet, verschiebt Martin Heidegger (1889–1976) die Perspektive auf die nicht-subjektiven Voraussetzungen, auf das Dasein bzw. das Sein. Max F. Scheler (1874–1928) rückt im Anschluss an Husserl und über ihn hinausgehend die ethischen und intuitiv-emotionalen Aspekte der Erfahrung, insb. die Werte, in den Mittelpunkt. Mit Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) gelangt die Sozialität des Menschen in den Fokus. In der Zwischen-Leiblichkeit (intercorporéïté) durchdringen sich Natur und Geist, Eigenes und Fremdes und drücken sich in Gebärden und im Körperschema schöpferisch aus. Daran anschließend und mit Bezug auf Emmanuel Lévinas entwickelt Bernhard Waldenfels eine P. der Responsivität, die auch die „passiven“ Entzugsmomente der leiblichen Erfahrung in den von der Wirklichkeit ausgehenden Ansprüchen akzentuiert.
Auf Merleau-Ponty rekurrieren unter dem Sammelbegriff „Embodiment“ z. T. recht unterschiedliche neurophänomenologische Ansätze. Sie versuchen, die leiblichen Erfahrungen der sog. Erste-Person-Perspektive methodologisch und epistemologisch mit kognitionswissenschaftlichen Theorien und neurophysiologischen Verfahren zu verbinden. In den Sozialwissenschaften finden sich ebenfalls im Anschluss an die Leibphänomenologie habitus-, geschlechter- und diversitätstheoretische Zugänge auf der Grundlage einer Theorie der sozialen Erfahrung und im Kontext einer Sozialtheorie, die über intersubjektive Verhältnisse hinaus auch den oder die Dritte(n) als Repräsentantin oder Repräsentanten gesellschaftlicher Ordnungen einzubeziehen vermag (Brinkmann, 2019).
Die phänomenologische Erziehungswissenschaft kann innerhalb des Husserl‘schen Programms der Regional-Ontologien, d. h. der phänomenologischen Grundlegung der Einzelwissenschaften, auf eine mehr als 100-jährige Tradition verweisen (ebd., 2018). Ihr gelingt es zunehmend, eigenständige Begriffe von „Bildung“, „Lernen“ und „Erziehung“ herauszuarbeiten. Pädagogische Erfahrungen können von anderen Erfahrungsformen unterschieden und inhaltlich wie systematisch bestimmt werden. Die phänomenologische Erziehungswissenschaft hat substanzielle Beiträge zu einer anthropologischen (Otto F. Bollnow), ontologischen (Theodor Ballauf), struktur- und sozialtheoretischen (Eugen Fink, Heinrich Rombach) und existenzialkritischen (Egon Schütz) Grundlegung der → Pädagogik, zur Kindheitsforschung (Martha Muchow, Wilfried Lippitz, Cornelie Dietrich, Ursula Stenger), zu einer Theorie der Lebensalter (Werner Loch), zu einer erfahrungsbasierten Theorie ästhetischer Erziehung und Bildung (Cornelie Dietrich, Kristin Westphal, Malte Brinkmann, Andrea Sabisch), zur Behindertenpädagogik (Ursula Stinkes), zur Unterrichts- und Professionalisierungsforschung (Michael Schratz et al., Malte Brinkmann, Sales Rödel) und zur → Erwachsenen- und Weiterbildung (Andreas Dörpinghaus) geliefert. Letztere heben den verzögernden und entschleunigenden Charakter einer „Bildung über die Lebenszeit“ gegenüber dem Konzept des Lebenslangen Lernens (→ lifelong learning) hervor. Günther Bucks Theorie des Lernens auf der Grundlage negativer Erfahrungen wird für die Bestimmung von Lernen als Umlernen (Käte Meyer-Drawe) bzw. Umüben (Malte Brinkmann) sowie für die Theorien der Bildung als Transformation (Hans-C. Koller) und als Blickwechsel (Dietrich Benner) bedeutsam.
Zentral für die phänomenologische Zugangsweise ist, dass Fragen und Probleme der Gegenstandskonstitution mit methodologischen Überlegungen und Verfahren verbunden werden (Brinkmann, 2022). Deskription und Reduktion, d. h. die Einklammerung von Urteilen (Edmund Husserl), das Anhalten einer Erfahrungsbewegung (Martin Heidegger) bzw. die Rückführung auf das Gesagte und Gesehene (Bernhard Waldenfels) gehören zusammen. Die phänomenologische Deskription – und ihre Varianten, z. B. in Form von Anekdoten (Max van Manen) und Vignetten (Michael Schratz u. a.), – versucht in den Differenzen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sagbarkeit und Unsagbarkeit sowie im Wechselverhältnis von Appell und Antwort eine qualitativ gehaltvolle Beschreibung von pädagogischen Erfahrungen zu geben. Responsive Verfahren verwenden Beschreibungen im Kontext von Bild- und Videoanalysen (Andrea Sabisch, Malte Brinkmann). Die phänomenologisch-deskriptiven Zugänge eröffnen eine Reihe fruchtbarer Anschlüsse an empirische Forschungen im Bereich der kulturellen Bildung (→ ästhetisch-kulturelle Bildung) und der frühen Bildung, in der sozialpädagogischen und in der Unterrichtsforschung (→ Unterricht).
Literatur
Brinkmann, M. (2018). Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute. Eine Anthologie. Wiesbaden: Springer VS.
Brinkmann, M. (Hrsg.). (2019). Verkörperungen. (Post-)Phänomenologische Untersuchungen zwischen erziehungswissenschaftlicher Theorie und leiblichen Praxen in pädagogischen Feldern. Wiesbaden: Springer VS.
Brinkmann, M. (2022). Phänomenologische Bildungsforschung. In D. Kergel, B. Heidkamp-Kergel &
S.-N. August (Hrsg.), Handbuch interdisziplinäre Bildungsforschung (S. 157–183). Weinheim: Beltz Juventa.