Perspektivverschränkung

Wiltrud Gieseke

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-224

Bei der P. im Kontext der Erwachsenen- und Weiterbildung wird davon ausgegangen, dass Wissen und Erkenntnis über pädagogisches Handeln erst möglich sind, wenn deren Wechselwirkungen erschlossen werden. Begrifflich betrachtet ist „Perspektive“ in der Geschichtswissenschaft, im Politischen und in der Kunst geläufig. In letzterer ist die räumliche Sehperspektive einzuordnen, welche durch naturwissenschaftliches geometrisches Wissen gestützt wird. Kulturwissenschaftlich ist damit ein symbolischer Raum abgesteckt. Das Pädagogische als Prozess (Pädagogik) konstituiert sich in einem nicht sichtbaren Raum; der Forschungsgegenstand markiert das „Dazwischen“. Wenn verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen und sich gleichzeitig aufeinander beziehen, wird dieser Raum durch deren Verschränkung ausgestaltet. Es entsteht eine Multi­perspektivität, welche durch die subjektiven Interessen der Beteiligten und durch das pä­dagogische Geschehen bedingt wird und sich in Form der wechselseitigen Bezugnahme ausdrückt. Es geht also nicht um Meinungsvielfalt (Gieseke, 2007, S. 19), sondern darum, ob und wie die verschiedenen, am pädagogischen Prozess Beteiligten eine Beziehung aufnehmen.

Im Kontext der Erwachsenen- und Weiterbildung wird mittels des theoretisch-analytischen Konzepts der P. der als räumlich zu markierende Bereich in arrangierten Situationen des lebenslangen Lernens (lifelong learning) erforscht, um Zugang zu bildungswissenschaftlichem Wissen zu gewinnen. Ausgehend von einer bestimmten Fragestellung werden jeweils relevante Perspektiven analysiert. Dabei interessiert, wie sich planendes, beratendes, lehrendes, lernendes und reflektierendes pädagogisches Handeln durch die Beteiligten im Prozess auswirken, welche Gegenläufigkeiten, Beziehungen und Wechselwirkungen entstehen, um den Gegenstand des Pädagogischen begrifflich beschreibbar zu machen.

Betrachtet wird der Umgang mit systematischem, empirischem Wissen und ebenso mit Erfahrungen. Der Zugang zu neuem Wissen führt über den Nachvollzug der relationalen Verhältnisse, die sich wechselwirkend im Prozess herausbilden. Die P. ist dabei nicht nur als eine allgemeine soziale Praktik, eine ökonomische Größe oder eine zu erfüllende Norm zu betrachten, sondern nimmt, je nach Fragestellung, die verschiedenen Perspektiven der lernenden, vermittelnden und planenden Akteure auf (z. B. können eine Lerneinheit dokumentiert und die Lernenden und Kursleitenden gleichzeitig zum Verlauf befragt werden). Zunächst steht der pädagogische Prozess bezogen auf die jeweilige Untersuchungsfrage im Mittelpunkt. Erst dann stellt sich die Frage, auf welche Weise sich das Lernen vollzieht.

Jede Perspektive wird getrennt untersucht und erbringt Befunde, die auch für sich allein stehen können. Als Realanalysen beschreiben diese aber nur einen Faktor im pädagogischen Zusammenspiel (z. B. das Programmplanungshandeln oder das vermittelnde Tun im Kurs oder äußere beeinflussende Faktoren). Die perspektivverschränkende Forschung zielt darauf ab, eine pädagogische Begrifflichkeit zu entwickeln, die die komplexen Prozesse erfasst und in ihren Abschnitten bzw. besonderen Funktionen benennen kann (Gieseke, 2019).

Im Pädagogischen werden Prozessverläufe und Zielvorstellungen in einer Spannung gehalten, wobei die Beziehung, die hergestellt wird, als Verbindungsglied, Unterstützung und Katalysator wirkt. Das Pädagogische ermöglicht zugleich, Perspektiven zu verändern. So kann man in pädagogischen Prozessen durch P. auch gesellschaftliche Wirklichkeiten neu betrachten. Hierzu liegen eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten vor, z. B. die Bildungsurlaubsstudie von Robak, Rippien, Heidemann und Pohlmann (2015). Mehr­perspektivisch werden hierin Teilnehmerstruktur, Teilnehmerbefragung, Angebotsplanung und betriebliche Positionen aufgenommen und leitende Prämissen zum Anschlusslernen sowie zu Lern- und Verwertungszusammenhängen ausgearbeitet.

Literatur

Gieseke, W. (2007). Das Forschungsarrangement Perspektivverschränkung. In W. Gieseke (Hrsg.), Qualitative Forschungsverfahren in Perspektivverschränkung. Dokumentation des Kolloquiums anlässlich des 60. Geburtstages von Frau Prof. Dr. W. Gieseke am 29. Juni 2007 (Erwachsenenpädagogischer Report, Bd. 11). Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin.

Gieseke, W. (2019). Wie kommen wir zu einer ausdifferenzierten erwachsenenpädagogischen Begrifflichkeit? In M. Rohs, I. Schüßler, H.-J. Müller & M. Schiefner-Rohs (Hrsg.), Pädagogische Perspektiven auf Transformationsprozesse. Reflexionen auf Rolf Arnolds Forschen und Wirken (S. 237–252). Bielefeld: wbv Publikation.

Robak, S., Rippien, H., Heidemann, L. & Pohlmann, C. (Hrsg.). (2015). Bildungsurlaub – Planung, Programm und Partizipation. Eine Studie in Perspektivverschränkung. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

Robak, S., Gieseke, W., Heidemann, L., Fleige, M., Kühn, C., Preuß, J., Freide, S. & Krüger, A. (2022). Wissenschaftliche berufliche Weiterbildung als Bildungssphäre für das künstlerisch-kulturelle, handwerkliche Selbst: Platzieren. Entfalten. Gestalten. Bielefeld: wbv Publikation.

Persönlichkeitsbildung
Phänomenologie