Pädagogik

Heinz-Hermann Krüger & Ulrike Deppe

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-218

Im alltäglichen Sprachgebrauch, aber auch in der Bezeichnung von Instituten oder Studiengängen an Universitäten werden die Begriffe P., „Erziehungswissenschaft“ und zunehmend auch „Bildungswissenschaft“ häufig synonym verwendet. Blickt man auf diese drei Begriffe aus einer historischen und systematischen Perspektive, zeigen sich deutliche Differenzen. So tauchte der Begriff P. erstmals in der griechischen Antike auf, bspw. in den philosophischen und politischen Reflexionen von Platon und Aristoteles. Dabei wurde der Begriff P. aus den griechischen Worten pais (Kind, Knabe) und agein (führen) hergeleitet und bezeichnete damit v. a. die Tätigkeit des Pädagogen bzw. Knabenführers, der die Söhne der Bürgerinnen und Bürger der Polis zu den Übungsstätten begleitete (Grunert, 2004).

Während der Begriff P. seither insb. mit dem pädagogischen Bezug zwischen Erziehendem und Zögling in Verbindung gebracht wird und in erster Linie das Wissen der Praxis bezeichnet, ist „Erziehungswissenschaft“ der Begriff, der das Wissen der Beobachtung von Erziehung und Bildung beschreibt und die Entwicklung der P. zu einer wissenschaftlichen Disziplin erfasst. Der Begriff „Erziehungswissenschaft“ tauchte im deutschen Sprachgebiet erstmals im ausgehenden 18. Jh., im Zeitalter der Aufklärung, auf. In dieser Zeit wurde die Auseinandersetzung mit erzieherischen Prozessen zu einer Wissenschaft. Im Jahre 1779 wurde der erste Lehrstuhl für P. an der Universität Halle mit dem Philanthropen Ernst C. Trapp besetzt, der die Erziehungswissenschaft als eine erfahrungswissenschaftliche, sich auf Beobachtungen und Experimente stützende Fachdisziplin entwarf.

Der jüngste ist der Begriff „Bildungswissenschaft“, der erst seit dem vergangenen Jahrzehnt zunehmend zur Bezeichnung von Universitätsinstituten und von Studiengängen verwendet wird. Als Bezeichnung von Hauptfachstudiengängen soll er darauf verweisen, dass er im Unterschied zum Begriff „Erziehungswissenschaft“, der insb. Kinder und Jugendliche als Adressatinnen und Adressaten pädagogischen Handelns im Blick hat, die aktuell diagnostizierbaren Entgrenzungsprozesse von Bildung über den gesamten Lebenslauf (lifelong learning) besser berücksichtigen kann. Zudem wird der Begriff „Bildungswissenschaft“ in der gegenwärtigen Lehrkräfteausbildung verwendet, um die Studienanteile zu beschreiben, die für die pädagogische und psychologische sowie die fachdidaktische Ausbildung (Fachbereich – Fachdidaktik) vorgesehen sind.

Beeinflusst vom Geist und den Zielen der Aufklärung bildete sich erst im letzten Drittel des 18. Jh. im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften die Disziplin Erziehungswissenschaft als eigenes Fach an Universitäten heraus. Die universitäre P. blieb nur eine kurze Episode, da Trapp nach Konflikten mit der Theologischen Fakultät die Universität Halle bereits nach vier Jahren wieder verließ. Im 19. Jh. begann die Vorgeschichte des modernen Bildungs- und Erziehungswesens. Modernisierungsprozesse (Modernisierung) schlugen sich in der sukzessiven Durchsetzung der Schulpflicht sowie in Neuordnungen der höheren Bildung nieder, und es manifestierten sich die ersten Versuche der Verarbeitung von Modernisierungsfolgen durch die Gründung von sozialpädagogischen Betreuungseinrichtungen oder durch erste Ansätze einer Erwachsenen- und Weiterbildung. Diese Entwicklungen führten aber noch nicht zur Etablierung einer universitären Erziehungswissenschaft. Systematische Fragen der Konstruktion pädagogischen Wissens wurden zu Beginn des 19. Jh. bereits dort diskutiert, wo sie in der historischen Konstitutionsphase der Erziehungswissenschaft zu Beginn des 20. Jh. noch immer anzutreffen sind: in der praktischen Philosophie, z. B. bei Johann F. Herbart, der sich v. a. um die Begründung einer Theorie des Unterrichts auf psychologischer Grundlage bemühte; im Kontext der Theologie, z. B. bei Friedrich D. E. Schleiermacher, der P. als eine sich an Ethik anschließende Kunstlehre begriff; und als Element eines breiten öffentlichen Diskurses über Nationalbildung oder Volksbildung, z. B. bei Wilhelm von Humboldt oder Johann H. Pestalozzi (Tenorth, 2006).

Einen bedeutenden Anstoß erhielt die Entwicklung der P. als Wissenschaft durch die Begründung einer akademischen Ausbildung für Volkschullehrkräfte in der Zeit der Weimarer Republik. Viele der neu eingerichteten Professuren für Allgemeine P. und Praktische P. wurden mit Vertretern und wenigen Vertreterinnen der Geisteswissenschaftlichen P. besetzt, die an die Lebensphilosophie und die historische Hermeneutik von Wilhelm Dilthey anknüpften und P. als eine Reflexionstheorie für die pädagogische Praxis verstanden. Zu einem weiteren Ausdifferenzierungsprozess der Erziehungswissenschaft kam es in den 1920er Jahren jedoch nicht, obwohl sich gerade in dieser Zeit ein umfassendes System der Jugendpflege und Jugendfürsorge sowie ein kommunales Netz von Volkshochschulen etabliert hatte. Erwachsenenbildnerische und sozialpädagogische Themen hielten nur punktuell und häufig auch in anderen Disziplinen (z. B. der Theologie oder der Medizin) Einzug in die universitäre Lehre (Grunert, 2004).

Der weitere Ausdifferenzierungsprozess der Erziehungswissenschaft in verschiedenen Subdisziplinen vollzog sich erst in den späten 1960er und 1970er Jahren in Westdeutschland. Infolge der Diskussion um eine Verwissenschaftlichung der Lehrkräfteausbildung und der in den meisten Bundesländern im Laufe der 1970er Jahre realisierten Integration der Pädagogischen Hochschulen in Universitäten wurde die Ausbildung für die Lehrkräfte an Grund-, Haupt- und Sonderschulen akademisiert und sozial aufgewertet. Einen zusätzlichen Expansionsschub erfuhr das Fach durch die Einführung erziehungswissenschaftlicher Hauptfachstudiengänge in Gestalt eines Magisterstudiengangs Anfang und insb. eines Diplomstudiengangs Ende der 1960er Jahre, der eher berufsorientiert sein sollte. Dieser trieb die Etablierung von Teildisziplinen wie der Erwachsenenbildung und der Sozialpädagogik mit eigenständigen Professuren und Studienangeboten voran.

Das bis Mitte der 1960er Jahre noch dominierende Paradigma der Geisteswissenschaftlichen P. wurde in der Folgezeit von empirisch orientierten bzw. ideologiekritischen Formen des Denkens abgelöst. Damit reagierte die P. als Wissenschaft auf die Herausforderungen, die von einer expansiven Bildungsreformpolitik bzw. der Studentenbewegung ausgingen. Insb. von Wolfgang Brezinka wurde in Adaption des Kritischen Rationalismus eine Empirische Erziehungswissenschaft begründet, die auf Werturteile verzichten und sich auf die Beobachtung und Vermessung der Erziehungswirklichkeit beschränken sollte. Ebenfalls in Abgrenzung zur Geisteswissenschaftlichen P. wurde seit den frühen 1970er Jahren von Wolfgang Klafki, Klaus Mollenhauer und Herwig Blankertz in Anlehnung an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule eine Kritische Erziehungswissenschaft entwickelt, die eine gesellschaftskritische Analyse der Erziehungswirklichkeit anstrebte und das Ziel verfolgte, mit Erziehungs- und Bildungsprozessen zur Emanzipation der Gesellschaft beizutragen (Krüger, 2019).

Im Verlaufe dieser theoretischen Diskussionen kam es zugleich zu einer Öffnung der Erziehungswissenschaft gegenüber anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, insb. der Psychologie und der Soziologie. Neben den in der pädagogischen Theorietradition seit langem verankerten Begriffen wie „Bildung“, „Erziehung“ und „Unterricht“ bekamen nun neue Begriffe wie Lernen und Sozialisation einen zentralen Stellenwert in der Erziehungswissenschaft. Zudem avancierten infolge der Bildungsreform sowie der Expansion und Verberuflichung des Sozial- und Beratungsbereichs auch neue Begriffe wie „Diagnose“, „Beratung“, „Hilfe“ und „Planung“ zu wichtigen Grundbegriffen der Erziehungswissenschaft; diese sollten die verschiedenen Facetten des professionellen Handelns von Pädagoginnen und Pädagogen theoretisch erfassen (Krüger & Helsper, 2010). Verbessert haben sich seit den 1970er Jahren die Bedingungen für Forschung im Fach Erziehungswissenschaft – nicht nur durch die umfassende Ausweitung des Personals an Hochschulen, sondern v. a. auch durch die Expansion außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, von denen einige wenige (z. B. das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) in Frankfurt a. M. oder das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin) bereits zuvor gegründet worden waren.

Im Unterschied zu den 1950er und 1960er Jahren, in denen das Fach Erziehungswissenschaft nur eine kleine und randständige Disziplin im Fächerspektrum an Universitäten war, gehört es heute im Hinblick auf Personal, Standorte und v. a. Studierendenzahlen in den Lehramtsstudiengängen und den erziehungswissenschaftlichen Bachelor- und Masterstudiengängen zu den größten Fächern an Universitäten. Zudem hat sich das Fach im Zuge der Expansion v. a. außerschulischer Arbeitsfelder in eine Vielzahl von Teildisziplinen ausdifferenziert, von denen die Erwachsenenbildung, die Sozialpädagogik und die Sonderpädagogik am stärksten etabliert sind. Das Volumen eingeworbener Drittmittel in der Grundlagen- und der anwendungsorientierten Forschung erreicht inzwischen ähnliche Größenordnungen wie die in den als forschungsstark geltenden Fächern Psychologie und Soziologie. Gestützt auf ein elaboriertes Spektrum an quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden werden mittlerweile alle Bereiche des Bildungs- und Sozialwesens untersucht (Krüger, 2019).

Im Gegensatz zu den ersten drei Nachkriegsjahrzenten, in denen die Paradigmen der Geisteswissenschaftlichen P., der Empirischen Erziehungswissenschaft und der Kritischen Erziehungswissenschaft jeweils für ein Jahrzehnt die Diskussionen dominierten, ist die erziehungswissenschaftliche Theorielandschaft seit den 1980er Jahren durch eine Ausdifferenzierung von theoretischen Ansätzen und damit verknüpften methodischen Perspektiven gekennzeichnet (im Überblick: Krüger, 2019). Dabei sind im aktuellen theoretischen Diskurs insb. drei Theorie- und Forschungslinien bedeutsam:

  • Erstens sind dies verschiedene Konzepte einer reflexiven Erziehungswissenschaft, die in Anlehnung an kritische Modernisierungstheorien in empirischen (v. a. qualitativen) Untersuchungen bspw. die Universalisierung des Pädagogischen, d. h. die Auswirkungen der zunehmenden Bedeutung des Pädagogischen in allen Lebensbereichen und Lebensphasen, herausgearbeitet haben (z. B. Kade & Seitter, 2007).
  • Zweitens sind dies poststrukturalistische Ansätze, die im Anschluss an Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität in diskursanalytischen Studien Ökonomisierungstendenzen und damit einhergehende Optimierungsansprüche an die Subjekte kritisch analysieren (z. B. Bröckling & Peter, 2014).
  • Drittens sind dies verschiedene Ansätze einer weiterentwickelten Empirischen Erziehungswissenschaft, die im Zuge der PISA-Debatte in den vergangenen zwei Jahrzehnten als empirische Bildungsforschung einen enormen Aufschwung erlebten und die in groß angelegten quantitativen Studien nicht nur den Erwerb von fachlichen Kompetenzen von Heranwachsenden und der Lehrkräfte in der Schule, sondern auch in nachschulischen Bildungseinrichtungen und im gesamten Lebenslauf untersuchen (Baumert & Tillmann, 2016).

Angesichts der kritischen Auseinandersetzungen insb. der Vertreterinnen und Vertreter poststrukturalistischer Positionen mit der empirischen Bildungsforschung, die an den Positivismusstreit in den 1970er Jahren erinnern, bleibt dennoch zu hoffen, dass das Fach Erziehungswissenschaft auch zukünftig durch ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Ansätzen und Zugängen gekennzeichnet bleibt.

Literatur

Baumert, J. & Tillmann, K.-J. (Hrsg.). (2016). Empirische Bildungsforschung. Der kritische Blick und die Antwort der Kritiker (Sonderheft, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 19(31)). Wiesbaden: Springer VS.

Bröckling, U. & Peter, T. (2014). Mobilisieren und Optimieren. Exzellenz und Egalität als hegemoniale Diskurse im Erziehungssystem. In H.-H. Krüger & W. Helsper (Hrsg.), Elite und Exzellenz im Bildungssystem (Sonderheft, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 17(19), S. 129–148). Wiesbaden: Springer VS.

Grunert, C. (2004). Erziehungswissenschaft – Pädagogik. In H.-H. Krüger & C. Grunert (Hrsg.), Wörterbuch Erziehungswissenschaft (S. 153–158). Wiesbaden: Springer VS.

Kade, J. & Seitter, W. (2007). Pädagogisches Wissen (2 Bde.). Opladen: Barbara Budrich.

Krüger, H.-H. (2019). Erziehungs- und Bildungswissenschaft als Wissenschaftsdisziplin (Reihe Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Bd. 3, utb 5272). Opladen: Barbara Budrich.

Krüger, H.-H. & Helsper, W. (2010). Einleitung. In H.-H. Krüger & W. Helsper (Hrsg.), Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft (9., akt. Aufl., utb 8092, S. 9–15). Opladen: Barbara Budrich.

Tenorth, H.-E. (2006). Erziehungswissenschaft in Deutschland. Skizze ihrer Geschichte von 1900 bis zur Vereinigung 1990. In H.-H. Krüger & K. Harney (Hrsg.), Einführung in die Geschichte der Erziehungswissenschaft und der Erziehungswirklichkeit (Reihe Einführungskurs Erziehungswissenschaft, Bd. 3, 3., erw. u. akt. Aufl., utb 8109, S. 133–176). Opladen: Barbara Budrich.

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