Lernende

Ortfried Schäffter

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-181

Der historisch epochale Paradigmenwechsel von der Vermittlungsperspektive zur Aneignungsperspektive (Aneignung – Vermittlung) im Zuge der sog. Kompetenzwende (Kompetenz) kommt gegenwärtig darin zum Ausdruck, dass als konstitutive Bestimmung pä­dagogischer Handlungskontexte L. zunehmend in den Mittelpunkt rücken. Die Kategorie Teilnehmende erscheint nicht mehr adäquat, weil sie der institutionellen Semantik der Veranstaltung entstammt. Komplementär hierzu verschiebt sich im Weiterbildungssystem auch die Benennungspraxis von den „Lehrenden“ hin zu „Lernbegleitenden“ bzw. „Lernberatenden“.

Professionelles pädagogisches Handeln definiert sich unter der Programmatik von Kompetenzentwicklung als subsidiäres Bereitstellen von Ermöglichungsräumen für Lernen (Ermöglichungsdidaktik) auf der Grundlage von bildungsbiografisch bedeutsamen Anlässen (Biografie). In einer subjektwissenschaftlichen Rekonstruktion der proklamierten neuen Lernkultur wird ein Verständnis von Erwachsenenlernen im Sinne eines universellen Lernhandelns möglich, das sich gleichermaßen auf didaktisch durchstrukturierte Lehr-Lern-Kontexte wie auch auf Arbeits- und Lebenszusammenhänge bezieht, die dem Wissenstyp und der Handlungslogik des Alltags verpflichtet sind. In den Mittelpunkt des theoretischen und praktischen Interesses stehen L. mit ihren subjektiven Lernbegründungen und gesellschaftlich historischen Lernvoraussetzungen.

Kennzeichnend für diesen Diskurs, der aus Fragestellungen der Erwachsenenpädagogik u. a. auf die kritische Psychologie von Klaus Holzkamp Bezug nimmt, ist eine tätigkeitstheo­retische Ausrichtung, die sich von individualpsychologischen und kognitionszentrierten (Kognition) Ansätzen der Instruktion unterscheidet und professionell abgrenzt. Das Holzkampsche Konzept des Lernhandelns nimmt die gesellschaftlich-historischen und die biografisch-situativen Bedingungen subjektiver Lernanlässe zum Ausgangspunkt. Für den Aufbau und die Gewährleistung pädagogischer Supportstrukturen kommen aus einer situierten Deutungsperspektive von Lernenden als gesellschaftliche Subjekte daher objektivierbare Lernbedingungen in den Blick, auf die reflexiv über rekursive Lernschleifen wieder Einfluss genommen werden kann:

  • Statt von der Anbieterzentrierung nimmt Weiterbildung von der Lernhaltigkeit und Lernförderlichkeit einer transitorischen Lebenslage ihren Ausgang (Felden & Schmidt-Lauff, 2015) oder von einer Berufssituation, die es in Bezug auf Verbesserung von Kompetenzentwicklung auch pädagogisch zu beeinflussen und auszugestalten gilt. Besondere Relevanz hat dies für arbeitsintegrierte Formen betrieblicher Weiterbildung (Lernen am Arbeitsplatz) und für ein Verständnis von informellem Lernen, das seine soziale Einbettung als Feld zivilgesellschaftlicher Gestaltung begreift. Für lebensbegleitende Weiterbildung erhält in einer sich transformierenden Gesellschaft eine serielle Verlaufsstruktur wiederholt auftretender Übergangszeiten besondere Bedeutung. Durch das Überschreiten des Konstrukts der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Lew S. Vygotsky), seiner Beschränkung auf kindliche Entwicklung und seiner Generalisierung von Übergangszeiten in der gesamten Lebensspanne wird es nun zu einer paradigmatischen Denkfigur lebensbegleitenden Lernens (lifelong learning). Dies erfolgt durch die konzeptuelle Transformation von einer „Zone of proximal development“ (ebd.) zu einer „Zone of possibility“ (John Cook). Das Weiterbildungssystem einer Gesellschaft begründet sich in diesem Wechsel von einer curricular zielvorwegnehmenden Anbieterzentrierung hin zu einer reflexiv transitorischen Lebenslagen­orientierung als gesellschaftliche Infrastruktur im Sinne eines ermöglichungsdidaktisch fungierenden scaffolding (Wahl, 2020).
  • Aus der sozialen Einbettung in soziale Milieus heraus werden differente Begründungen von Lernen und Bildung thematisierbar mit entsprechenden Folgen für Lernmotivation und Bildungsaspiration bzw. spezifischem Bedarf an pädagogischen Supportstrukturen.
  • Aus dem je erworbenen „bewahrenden“ oder biografisch „entwicklungsorientierten Lernhabitusmuster“ (Herzberg, 2004, S. 289ff.) heraus werden aktivierende Lernanlässe konstituiert und in persönlich bedeutsamen Entwicklungsverläufen im Sinne zukunftserschließender learning projects of adults weiterverfolgt.
  • Auf die unterschiedlichen „alltagsdidaktischen Institutionalisierungen“ (Schäffter, 1999, S. 90) sozialer Praktiken des Lernens und ihre kognitiven Stile (Lernstrategien – Arbeitstechniken) kann im Lebensverlauf (Lebenslauf) in unterschiedlichen Zusammenhängen aktivierend zurückgegriffen werden. Hans Tietgens unterscheidet hier zwischen einem additiv-kasuistischen und einem synthetisierend-sinnvorwegnehmenden Typus habitualisierter Lernpraktiken (Habitus), die im Laufe einer spezifischen Lerngeschichte eingeübt werden können.
  • Die sozialen Bezugsgruppen und das verfügbare soziale Netzwerk übernehmen wichtige Support- und Beratungsfunktionen für Entwicklungsprozesse lebensbegleitenden Lernens und können pädagogisch aktiviert werden.

Der erwachsenenpädagogische Diskurs in Anschluss an die Kompetenzwende deutet somit pädagogisches Handeln als lernförderliche Kontextsteuerung in sowohl alltäglichen Sinnzusammenhängen als auch in didaktisierten Settings. Im Sinne der Ermöglichungsdidaktik wird auf reflexiv selbstbestimmbare Bedingungen der Möglichkeit subjektiv bedeutsamer Welterschließung strukturierend Einfluss genommen. Expansives Lernen bleibt dabei in der Hand der lernenden Subjekte, und pädagogisches Handeln kon­zen­triert sich in professioneller Selbstbeschränkung auf seine Unterstützung im Sinne einer pädagogischen Dienstleistung zur Kompetenzentwicklung.

Literatur

Felden, H. von & Schmidt-Lauff, S. (2015). Transitionen in der Erwachsenenbildung: Übergänge im gesellschaftlichen Wandel, im Fokus von Forschung und aus Sicht pädagogischer Professionalität. In S. Schmidt-Lauff, H. von Felden & H. Pätzold (Hrsg.), Transitionen in der Erwachsenenbildung. Gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Übergänge (S. 11–16). Opladen: Barbara Budrich.

Herzberg, H. (2004). Biographie und Lernhabitus. Eine Studie im Rostocker Werftarbeitermilieu (Reihe Biographie- und Lebensweltforschung des Interuniversitären Netzwerkes Biographie- und Lebensweltforschung, Bd. 1). Frankfurt a. M.: Campus.

Schäffter, O. (1999). Implizite Alltagsdidaktik. In R. Arnold, W. Gieseke & E. Nuissl (Hrsg.), Erwachsenenpädagogik – Zur Konstitution eines Fachs (Festschrift für Horst Siebert zum 60. Geburtstag (S. 89–102). Baltmannsweiler: Schneider.

Wahl, J. (2020). Die Zone of Possibility für Übergänge im Bildungssystem. Möglichkeitsräume durch die Institutionalisierung des Lebenslangen Lernens. In S. Thiersch, M. Silkenbeumer & J. Labede (Hrsg.), Individualisierte Übergänge. Aufstiege, Abstiege und Umstiege im Bildungssystem (S. 253–272). Wiesbaden: Springer.

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