Lernen

Jörg Dinkelaker

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-179

Die Frage, wie sich L. vollzieht und wie es herbeigeführt oder unterstützt werden kann, gehört zu den Grundfragen erwachsenenpädagogischen Denkens und Handelns. Jedes Bemühen um Weiterbildung setzt die Annahme voraus, dass Erwachsene lernen (können). Durch Angebote der Erwachsenen- und Weiterbildung soll L. organisiert werden. Bildungsangebote für Erwachsene werden als eine Infrastruktur für lebenslanges Lernen (lifelong learning) begriffen und sollen das L. im Lebenslauf begleiten und unterstützen.

Wie Erwachsenen- und Weiterbildung gestaltet und reflektiert wird, hängt damit wesentlich von der Frage ab, was man unter L. versteht und worauf es beim L. ankommt. Auf eine allgemein gültige begriffliche Bestimmung von L. kann dabei nicht zurückgegriffen werden. Dies liegt nicht an einem Mangel an Definitionsvorschlägen, sondern vielmehr daran, dass zahlreiche unterschiedliche Auslegungen des Begriffs entwickelt wurden. Sie sind jeweils in sich kohärent ausgearbeitet und wurden häufig auch empirisch fundiert (Nuissl, 2006), weichen aber in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen z. T. erheblich voneinander ab. Diese wissenschaftlichen Bestimmungen von L. lassen sich zwar in bestimmte Gruppen zusammenfassen, z. B. in verhaltenswissenschaftliche (Lernverhalten), kognitivistische (Kognition), handlungsregulationstheoretische, konstruktivistische (Konstruktivismus), neurophysiologische, phänomenologische (Phänomenologie), pragmatistische, subjektwissenschaftliche und kritisch-pragmatische Ansätze (Faultisch, 2013); sie lassen sich aber nicht auf einen gemeinsamen Begriff bringen. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass sich die Vorstellungen von L., die dem alltäglichen und dem erwachsenenpädagogischen Umgang mit L. zugrunde liegen, meist von den in der Wissenschaft ausgearbeiteten theoretischen Begriffen unterscheiden. Gerade diese in den konkreten Situationen des Umgangs mit L. wirksam werdenden Vorstellungen sind es aber, die das Geschehen in der Erwachsenen- und Weiterbildung prägen.

Wer angesichts dieser Fülle an Verständnissen dennoch eine übergreifende Definition nutzen möchte, muss L. als einen Sammelbegriff bestimmen, mit dem unterschiedliche Phänomene und Dynamiken benannt werden, in denen und durch die sich Verhaltens-, Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkmöglichkeiten und -gewohnheiten verändern. Sofern der Begriff L. im wissenschaftlichen Kontext Verwendung findet, kann er daher nur im Plural stehen („Lernbegriffe“). Wer sich für eine bestimmte Definition entscheidet, hat dies als Auswahl aus einer Vielzahl von Möglichkeiten zu begründen. Die Frage, welchen Begriff des Lernens man wählt, um Erwachsenen- und Weiterbildung zu beschreiben und zu gestalten, ist immer auch mit normativen Abwägungen verbunden, da mit jedem Lernkonzept notwendigerweise Erwartungen verbunden sind, was und wie gelernt werden soll. Insofern kann L. auch als eine Chiffre verstanden werden, die Aushandlungen darüber ermöglicht, um was es in der Erwachsenen- und Weiterbildung geht und was in ihrem Rahmen geschieht bzw. geschehen soll.

Die in der Wissenschaft und in der Praxis der Erwachsenenbildung entfaltete Pluralität von Lernverständnissen ist weniger als ein zu überwindender Mangel zu verstehen, sondern vielmehr als eine Ressource: Die Vielfalt ausgearbeiteter analytischer Bestimmungen des Lernbegriffs eröffnet einen differenzierten Wahrnehmungshorizont, der es erlaubt, die Phänomene, auf denen das L. Erwachsener und dessen pädagogische Gestaltung basieren, hochauflösend wahrnehmbar zu machen. Die Auseinandersetzung mit den Gründen und normativen Implikationen der Orientierung an diesem oder jenem Lernverständnis legt die immer auch machtvoll strukturierten Bedingungen offen, unter denen dieses Anwendung findet. In den letzten Jahren sind Überblickswerke entstanden, die die in der Erziehungswissenschaft diskutierten Interpretationen des Lernbegriffs offenlegen (Göhlich, Wulf & Zirfas, 2007), sodass die Vielfalt der Phänomene, die als L. bezeichnet werden, zugänglich werden und über eine mögliche Auswahl informiert wird. Auch für die Erwachsenenbildung wurden entsprechende Überblickswerke veröffentlicht (Dinkelaker, 2018; Faulstisch, 2013; Grotlüschen & Pätzold, 2020).

Auch wenn in der Erwachsenenbildungswissenschaft eine große Bandbreite von Lerntheorien rezipiert und diskutiert wird, die in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen entwickelt wurden (insb. der Psychologie, der Neurowissenschaft, der Soziologie und der Anthropologie), spielen doch einige Begriffsverständnisse eine herausgehobene Rolle. Kennzeichnend für erwachsenenpädagogische Thematisierungen von L. ist die Betonung, dass es sich beim L. um etwas handelt, was die Lernenden (und nicht die Lehrenden) vollziehen. Die den Status des Erwachsenen konstituierende Selbstbestimmungserwartung wird so auf deren Lernhandlungen übertragen. Da mit der Eta­blie­rung des Lebenslangen Lernens als bildungspolitischer Leitidee die Selbststeuerung und Selbstverantwortung des Lernens (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen) wiederum zu einer machtvoll durchgesetzten Erwartung an Erwachsene wird, erweist sich die Verortung des Lernvorgangs bei den Lernenden keineswegs nur als eine Befreiung, sondern zugleich als eine Zuschreibung von Eigenverantwortung im Horizont von (meist arbeits- und sozialpolitisch und damit) nicht unweigerlich selbst bestimmten Zielen.

Die doppelte Perspektive auf L. als einen Vorgang, der einerseits notwendigerweise von den Lernenden vollzogen werden muss, der andererseits aber durch die jeweiligen sozialen Konstellationen strukturiert wird, in denen er sich ereignet, spiegelt sich in der Erwachsenenbildungswissenschaft dadurch wider, dass sich zwei Gruppen von Lernbestimmungen unterscheiden lassen:

  1. Zum einen wird mit Konzepten gearbeitet, die Prozesse des Lernens vorwiegend bei den Lernenden verorten. Zu nennen sind hier insb. die Theorien des pragmatischen Erfahrungslernens (John Dewey, Peter Faulstich), des biografischen Lernens (­Al­fred Schütz, Peter Alheit, Bettina Dausien) und des transformativen Lernens (Jack Mezirow, Edward Talyor) (transformative Erwachsenenbildung) sowie die kon­struk­ti­vistischen (Humberto Maturana, Horst Siebert, Rolf Arnold) und die subjektwissenschaftlichen Lerntheorien (Klaus Holzkamp, Joachim Ludwig, Peter Faulstich) (Subjektorientierung) und das Modell der Lerntypen bei Erwachsenen (Josef Schrader) (Lernstile).
  2. Eine andere Gruppe von Ansätzen stellt hingegen die sozialen Kontexte in den Mittelpunkt, in denen sich L. ereignet. Hierzu zählen die Modelle des informellen Lernens (Victoria Marsick), des Lernens im Lebenslauf (Christiane Hof), des Lernens als kommunikative Konstruktion (Jörg Dinkelaker) sowie gouvernementalitätstheoretische Analysen von Diskursen des Lernens (Daniel Wrana, Daniela Rothe).

Die individuums- und die kontextfokussierenden Bestimmungen stellen zwar je einen anderen Aspekt des Lerngeschehens scharf, verweisen aber gerade dabei wechselseitig aufeinander:

Zu (1). So werden aus den individuumsfokussierenden Bestimmungen Forderungen dahingehend abgeleitet, wie die Kontexte zu gestalten sind, in denen Erwachsene lernen (sollen): Weil L. ein Erfahrungsprozess (Erfahrungen – Erfahrungsorientierung) ist, soll es Erwachsenen möglich werden, ihre Handlungen selbst zu wählen, die Konsequenzen ihres Handelns wahrzunehmen und über das Verhältnis zwischen den Handlungen und deren Konsequenzen nachzudenken. Weil L. ein biografischer Prozess (Biografie) ist, sollen Gelegenheiten für Erwachsene geschaffen werden, in denen sie sich ihrer je eigenen Geschichte bewusstwerden und mit anderen über ihre jeweils individuell biografisch entwickelten Zugänge zur Welt austauschen können. Weil Erwachsene ihr L. aus subjektwissenschaftlicher Perspektive entweder expansiv oder defensiv begründen, sollen expansive Begründungen (expansives Lernen) gestärkt und entfaltet, Situationen des defensiv begründeten Lernens hingegen abgebaut werden usw.

Zu (2). Kontextfokussierende Theorien des Lernens versuchen demgegenüber die Frage zu klären, wie soziale Konstellationen die Lernverständnisse und -vorgänge der Situationsbeteiligten strukturieren. So wird z. B. rekonstruiert, welche Dynamiken und Prozesse des Lernens in einer spezifischen Phase des Übergangs im Lebenslauf wirksam werden. Bei der Rekonstruktion von Situationen der Kommunikation von L. wird untersucht, welche Beteiligten in welcher Weise als Lernende oder Nicht-Lernende wahrnehmbar (gemacht) werden und welcher Vorgang in den betreffenden Situationen als L. behandelt wird. Gouvernementalitätstheoretische Analysen legen die sich historisch entwickelnden und immer auch machtförmig hervorgebrachten normativen Erwartungen offen, in deren Horizont die Beteiligten ihr eigenes L. (und das der anderen) verstehen und verständlich machen können.

In dieser eigentümlichen Verschränkung individuums- und kontextfokussierter Lernverständnisse zeigt sich ein strukturelles Merkmal erwachsenenpädagogischen Denkens und Handelns: L. wird hierbei einerseits als eine Tätigkeit der Lernenden verstanden, die als Erwachsene Verantwortung für ihr Leben und das Leben der anderen übernehmen. L. wird andererseits aber auch als etwas verstanden, das erst durch erwachsenenpädagogische Arrangements und Interventionen eine besondere Qualität erfährt und damit in die Verantwortung einer professionellen Gestaltung durch Lehrende gestellt ist.

Gegenwärtig lassen sich drei Felder ausmachen, in denen Herausforderungen der Weiterentwicklung erwachsenenpädagogischer Lerntheorien liegen:

  1. Angesichts einer weiter voranschreitenden Pluralisierung von Lebens- und Lernkontexten ist die Erwachsenen- und Weiterbildung vor die Aufgabe gestellt, diese Vielfalt an Konstellationen und darin wirksam werdende Lernverständnisse angemessen zu beschreiben. Zudem sind diejenigen Lernherausforderungen und -dynamiken in den Blick zu nehmen, die sich aus der Notwendigkeit der Vermittlung und Übersetzung zwischen diesen unterschiedlichen Kontexten ergeben.
  2. Hinzu kommt, dass die zunehmende Digitalisierung von Kommunikations- und Handlungskontexten weitreichende Veränderungen des Lernens mit sich bringt (digitales Lernen). Dies betrifft nicht nur die Frage, wie sich Lernprozesse im Umgang mit elektronischen Medien anders ausprägen, sondern auch, wie durch Digitalisierung L. in veränderter Weise hervorgebracht wird, z. B. wenn immer öfter Algorithmen die Aufmerksamkeit steuern und Bewertungen nahelegen. In einer paradoxen Gegenbewegung wird gerade durch die Digitalisierung die Frage neu aufgeworfen, welche spezifische Lernbedeutsamkeit der analogen körperlichen Einbindung Lernender in räumlich-materielle Situationen zukommt.
  3. Weiterhin klärungsbedürftig ist die seit den anfänglichen Professionalisierungsbemühungen (Professionalisierung) in den 1970er Jahren anstehende Frage, in welcher Weise und von wem entschieden wird, welche Lehr-Lern-Ziele in der Erwachsenenbildung verfolgt und welche Lernverständnisse dabei zugrunde gelegt werden. Dies betrifft nicht allein das Verhältnis zwischen den Entscheidungsspielräumen von Erwachsenenpädagoginnen und -pädagogen zu den Spielräumen von erwachsenen Lernenden; es betrifft vielmehr auch die Frage des Umgangs mit bildungs-, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Imperativen und ökonomischen Rationalitäten.

Im Horizont dieser Diskussion um einen professionell zu verantwortenden pädagogischen Lernbegriff lässt sich auch die gegenwärtige Kontroverse verorten, in der dem mittlerweile vorwiegend arbeitsmarktpolitisch konturierten Konzept des Lebenslangen Lernens (Pongratz, 2008) jenes des Lernens im Lebenslauf gegenübergestellt wird, das die Lebenssituationen und die damit verbundenen Lernherausforderungen Erwachsener zum Ausgangspunkt nimmt (Hof & Rosenberg, 2018).

Literatur

Dinkelaker, J. (2018). Lernen Erwachsener. Stuttgart: W. Kohlhammer.

Faulstich, P. (2013). Menschliches Lernen. Eine kritisch-pragmatische Lerntheorie. Bielefeld: transcript.

Göhlich, M., Wulf, C. & Zirfas, J. (2007). Pädagogische Theorien des Lernens. Weinheim: Beltz.

Hof, C. & Rosenberg, H. (2018). Lernen im Lebenslauf. Theoretische Perspektiven und empirische Zugänge. Wiesbaden: Springer VS.

Grotlüschen, A. & Pätzold, H. (2020). Lerntheorien in der Erwachsenen- und Weiterbildung (Lehrbuchreihe Erwachsenen- und Weiterbildung. Befunde – Diskurse – Transfer, Bd. 4, utb 5622). Bielefeld: wbv Publikation.

Nuissl, E. (2006). Vom Lernen zum Lehren: Lern- und Lehrforschung für die Weiterbildung (Reihe DIE spezial, Bd. 2). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Pongratz, L. A. (2008). Lebenslanges Lernen. In A. Dzierzbicka & A. Schirbauer (Hrsg.), Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Zertifizierung (S. 162–171). Wien (AT): Löcker.

Leitung – Management
Lernen am Arbeitsplatz