Lebendiges Lernen

Rolf Arnold & Ingeborg Schüßler

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-170

L. L. beschreibt ein pädagogisches Konzept, das weniger das zu vermittelnde Fachwissen als den Lernprozess, die Lerngruppe (Gruppendynamik) und den Lernenden selbst (Subjektorientierung) mit seiner Biografie und seinem Aneignungs- und Lernverhalten ins Zentrum der Betrachtung rückt. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Einbezug von emotionalen und sinnlich-ästhetischen Erfahrungen in die Lernprozessgestaltung sowie dialogische und systemische Kompetenzen des Lehrenden, wie sie beispielhaft im Ansatz der Ermöglichungsdidaktik konzeptualisiert werden, ein nachhaltiges und l. L. und mithin den Aufbau einer entwicklungsförderlichen Lernkultur unterstützen (Arnold & Schüßler, 1998).

L. L. fußt auf dem Konzept der Themenzentrierten Interaktion (TZI) und versteht sich als ganzheitliches Lernen, das aus gruppentherapeutischen Verfahren hervorgegangen ist. Bekannt geworden ist das Konzept v. a. durch die Arbeiten der Psychotherapeutin Ruth Cohn (1990). Das Konzept ist aufgrund seiner axiomatischen Grundaussagen, Postulate, Hilfsregeln und methodischen Hinweise sehr praxisorientiert. Während die Axiome eine humanistische Grundhaltung der Pädagogin bzw. des Pädagogen beschreiben, geben die beiden Postulate („Sei deine eigene Chairperson” und „Störungen haben Vorrang”) bereits konkrete Hinweise für die Lernprozessgestaltung, in der die Selbstbestimmung und die Bedürfnisse des Lernenden geachtet werden. Das Modell der TZI versucht, Lernprozesse in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten und weist auf vier Faktoren hin, die in einer Gruppeninteraktion (Interaktion – Kommunikation) wirksam werden: (1) das Ich (die Person und ihre Anliegen), (2) das Wir (die Gruppe und ihre Interessen), (3) das Es (das Thema oder die gemeinsame Aufgabe) und (4) der Globe (das situative, soziale, natürliche Umfeld der Gruppe inklusive der Bedingtheiten durch Vergangenheits- und Zukunftsaspekte). Diese Faktoren sollen in einem Lehr-Lern-Prozess in einer dynamischen Balance gehalten werden. Es geht wie beim Identitätslernen (Identität) um ein Gleichgewicht von Sach- und Beziehungsebene, das ein lebendiges Miteinander-Lernen ermöglicht, gerade dadurch, dass die Lernenden sowohl in ihren kognitiv-rationalen (Kognition) als auch in ihren emotional-sozialen Fähigkeiten (Emotion – emotionale Kompetenz) ernst genommen werden und sie im Sinne eines expansiven Lernens eine persönliche Beziehung zum Lerngegenstand herstellen können. Erst über diese Erfahrungsorientierung (Erfahrungen – Erfahrungsorientierung) gelingt auch der Aufbau von Gestaltungskompetenz sowie eine achtsame Lebensweise, die im Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung (Nachhaltigkeit; Umweltbildung) als bedeutsam beschrieben werden. Zur Umsetzung eignen sich hier Methoden eines lebendigen und nachhaltigen Lernens (z. B. Gugel, 2011).

Die historischen Wurzeln des Bemühens um ein lebendige(re)s L. reichen bis in die Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jh. zurück, die bereits darum bemüht war, die Einseitigkeiten einer verkopften „Buchschule“ zu überwinden und durch Formen einer „Schule der Selbsttätigkeit“ (Hugo Gaudig) zu ersetzen. Dafür wurde die traditionelle Perspektive „auf den Kopf gestellt“: Es bestimmten nicht mehr (nur) die Anforderungen der überlieferten Kultur und der aktuellen Gesellschaft das „Was“ und „Wie“ des Lernens; ausgegangen wurde vielmehr vom Lernenden selbst. Maßgeblich für den Lernerfolg war somit – neben der „Weitergabe von Kultur“ – insb. auch das Gelingen von Selbsttätigkeit (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen) und Persönlichkeits­bildung.

Mit dem immer rascheren gesellschaftlichen und technologischen Wandel (sozialer Wandel) der modernen Gesellschaften gewinnen solche Ansätze und Vorläufer eines Identitätslernens eine neue Aktualität. Kennzeichnend für die postmodernen Gesellschaften ist, dass Ausgang wie auch Ergebnis von Veränderungsprozessen unbestimmbar geworden sind und Wissen und Handeln somit einer größeren Bewusstwerdung, kontinuierlichen Reflexion sowie Transformationsfähigkeit bedürfen.

Eine solche Reflexions- und Transformationsfähigkeit erfordert aber über das Fachwissen hinausgehende Kompetenzen, die in der Berufsbildung einst mit dem Begriff der Schlüsselqualifikationen umschrieben wurden, heute verstärkt im Diskurs um Kompetenzentwicklung (Kompetenz) sowie um systemisches und transformatives Denken und Lernen (systemische Erwachsenenbildung; transformative Erwachsenenbildung) berücksichtigt werden.

Literatur

Arnold, R. & Schüßler, I. (1998). Wandel der Lernkulturen. Ideen und Bausteine für ein lebendiges Lernen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Cohn, R. (2009). Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle (15. Aufl.). Stuttgart: Klett-­Cotta.

Gugel, G. (2011). 2000 Methoden für Schule und Lehrerbildung. Das Große Methoden-Manual für aktivierenden Unterricht. Weinheim: Beltz.

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