Kompetenzbilanzierung

Dieter Gnahs & Mona Pielorz

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-161

Die K. ist ein Verfahren, bei dem versucht wird, möglichst alle oder ausgewählte Kompetenzen einer Person zu identifizieren und zu bewerten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die jeweiligen Kompetenzen auf dem Weg der formalen, non-formalen oder informellen Bildung erworben wurden. Die Zielsetzungen einer K. sind weit gespannt: Sie reichen von überblicksartigen Zusammenstellungen zur persönlichen Orientierung und Reflexion bis hin zu extern validierten Portfolios (Anerkennung – Validierung) als Grundlage für ordnungspolitisch relevante Entscheidungen mit Rechtswirkung (wie Anrechnungen bei formalen Bildungsgängen oder die Zuerkennung von Abschlüssen und Berechtigungen).

Auf der ersten Stufe der K. (Identifikation) geht es im Wesentlichen um biografieorientierte Erinnerungsarbeit (Biografie), um das Zusammenstellen von Bescheinigungen und Belegen (z. B. Arbeitszeugnisse, Tätigkeitsnachweise, Leistungsurkunden) und die Dokumentation von Abschlüssen, Diplomen und sonstigen Zertifikaten. Dieser Prozess der Kompetenzerfassung und Kompetenzmessung wird im Regelfall von Beratungspersonal begleitet und ggf. angeleitet. Im Zentrum steht das betreffende Individuum, das sich mit dem geordneten Material mittels Selbsteinschätzungen Klarheit über seine Stärken und Schwächen sowie, daraus resultierend, seine Berufs- und Tätigkeitsperspektiven verschaffen kann. Die im Einsatz befindlichen Weiterbildungspässe wie der ProfilPASS erfüllen diese Aufgabe.

Auf einer weiterführenden zweiten Stufe der K. (Validierung) wird das dokumentierte Material auf Aussagekraft, Stichhaltigkeit und Verlässlichkeit extern geprüft. Bei diesem Prozess können sehr unterschiedliche Instrumente zum Einsatz kommen, z. B. Vergleiche mit formalen Anforderungsprofilen, Tests, Prüfungen, Arbeitsproben, Assessmentcenter, Probehandeln bzw. Probearbeit. Dieser Schritt ist geprägt vom Urteil Sachverständiger und relativ aufwändig.

Auf der sich anschließenden dritten Stufe der K. (Zertifizierung) werden die Ergebnisse der Validierung von zuständigen Stellen bewertet und nach pflichtgemäßem Ermessen oder anhand fester Regeln in verbindliche Rechtsakte umgesetzt, die den Betroffenen Berechtigungen und Rechte vermitteln, wie die Zulassung zu einer formalen Prüfung, die Verkürzung von Ausbildungs- oder Studienzeiten, die Zuerkennung einer Qualifikation oder die Zulassung zu einem Studium.

Im Folgenden werden zwei Beispiele aus dem europäischen Ausland präsentiert, die die zweite und dritte Stufe der K. inkludieren:

  1. Die Weiterbildungsakademie (wba) ist eine Einrichtung in Kooperation mit Verbänden der österreichischen Erwachsenenbildung und dem Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (bifeb) und wurde 2007 eröffnet. Die wba bietet zwei gestufte Bildungsgänge für die Qualifizierung von in der Erwachsenenbildung Tätigen an: das wba-Zertifikat und das wba-Diplom. Interessierte können ihre Berufserfahrungen, Ausbildungen und Studien im Sinne einer „Standortbestimmung“ bewerten und, ggf. mittels zusätzlicher Qualifikationen, anerkennen lassen. Das wba-Zertifikat hat darüber hinaus ordnungspolitische Relevanz im Rahmen der Akkreditierung nach dem sog. Ö-Cert, einem staatlichen Qualitätssiegel (Qualität) für Erwachsenenbildungseinrichtungen.
  2. Die Bilan de Compétences ist schon 1991 in Frankreich eingeführt worden und dient –
    ähnlich wie der ProfilPASS – der individuellen „Standortbestimmung“ und Orientierung. Im Rahmen des Anerkennungsverfahrens „Validation des Acquis de l‘Expérience
    (VAE)“ wird eine umfangreiche K. eingesetzt (u. a. Zusammenstellung von Dokumenten, umfassende Beschreibungen von Arbeitsleistungen). Auf Grundlage dieser K. entscheidet eine zuständige Einrichtung nach Aktenlage, ob sich der Kandidat für das Assessment bzw. die Prüfung eignet oder ob eine Nachqualifizierung nötig ist. Abschließend überprüft eine Fachjury die geforderten Leistungsstandards und verleiht ggf. den avisierten Abschluss.

Es ließen sich noch weitere europäische Beispiele (z. B. aus der Schweiz und den Niederlanden) anfügen, die die Fortschritte der von der Europäischen Union forcierten Anerkennungspraxis belegen. In Deutschland hingegen ist das traditionell stark formale System mit seinen wirkmächtigen Akteuren eher ein retardierendes Element.

Literatur

European Commission. (2018). Skills audits: tools to identify talent. Final report. Luxembourg (LU): Publications Office of the EU.

Gruber, E. (2018). Kompetenzanerkennung und -zertifizierung für in der Erwachsenenbildung/Weiter­bildung Tätige. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 2, S. 1089–1108). Wiesbaden: Springer VS.

Münchhausen, G. & Seidel, S. (2016). Anerkennung informell erworbener Kompetenzen. In M. Rohs (Hrsg.), Handbuch informelles Lernen (S. 587–607). Wiesbaden: Springer VS.

Rat der Europäischen Union. (2012). Empfehlungen des Rates vom 20. Dezember 2012 zur Validierung nichtformalen und informellen Lernens (Amtsblatt der Europäischen Union, 2012/C 398/01). Brüssel (BE): EU.

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