Ursula Apitzsch
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-147
Trotz einer seit den 1980er Jahren andauernden Diskussion hat sich im deutschen Sprachraum bis heute keine trennscharfe Verwendung des Begriffs i. E. herauskristallisiert. Vielmehr steht dieser für eine Vielfalt an Konzepten und Zielsetzungen und erfasst im erwachsenenpädagogischen Kontext sowohl migrationsgesellschaftliche Entwicklungen (→ Migration) als auch Bildungsbedarfe, die aus der Notwendigkeit von internationaler Kommunikation und Kooperationen resultieren (→ internationale Zusammenarbeit). Wird Erwachsenenbildung im Zusammenhang von Migrationsgesellschaften thematisiert, geht es zum einen um die Partizipationschancen (→ Inklusion – Diversität) eingewanderter Menschen auf allen Ebenen der → Gesellschaft, zum anderen um die Entwicklung von sog. kulturellen Kompetenzen für die Bewältigung einer globalisierten Arbeits- und Lebenswelt (Eppenstein, 2003).
In der Bundesrepublik Deutschland – wie in anderen westeuropäischen Industrieländern – sind drei Phasen der Auseinandersetzung mit interkultureller E. auszumachen:
- In der ersten Phase, die mit der staatlichen Anwerbung von „Gastarbeiterinnen und -arbeitern“ Anfang der 1960er Jahre begann, standen v. a. deren Kinder im Fokus schulpädagogischer Bemühungen. Mit der in den 1970er Jahren aufkommenden Kritik an der zugrundeliegenden „Defizit-Hypothese“ und schließlich mit der Abwendung von einer kompensatorischen „Ausländerpädagogik“ zur Integration kultureller Minoritäten zu Beginn der 1980er Jahre endete diese Phase.
- In einer zweiten Phase seit den 1980er Jahren erfolgte die Beschäftigung mit den besonderen Kulturen der Einwandererminoritäten. Im Sinne einer sog. Differenz-Hypothese sollte ein Perspektivwechsel hin zum Respektieren von Unterschieden initiiert werden. Migration wurde nicht mehr als vorübergehendes Phänomen, sondern als dauerhafte Daseinsform im Sinne einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft verstanden.
- In einer dritten Phase seit Beginn der 1990er Jahre wurde eine systematische Kritik am multikulturellen Curriculum erkennbar. Es wurde darauf aufmerksam gemacht, dass ethnische Strukturen und Konzepte z. T. durch dieses → Curriculum erst hervorgebracht werden. Dieser Kritik wurde in ihrer Engführung durch die Definition einer „Politik gegenseitiger Anerkennung“ (Jürgen Habermas) in multikulturellen Gesellschaften entgegnet, die es ermöglichen sollte, Traditionen und spezifisches → Wissen der Herkunftskulturen in der Ankunftsgesellschaft fortzusetzen oder im Sinne der Generierung von gesellschaftlich Neuem (Alfred Schütz) zu transformieren. Mit dieser „interkulturellen Hypothese“ wurde politische Gleichstellung aller Gesellschaftsmitglieder gefordert. Die pädagogische Perspektive verschob sich vom Eingliederungsgedanken der zugewanderten Bevölkerung hin zu einem Ansatz des Einbezugs von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft. Ziel war nun die Vermittlung zwischen unterschiedlichen kulturellen Traditionen und ethnischen Gruppen sowie das Angebot grundlegender Orientierungsmaßnahmen für das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft als Realität. In dieser dritten Phase wurde zudem zum Verstehen kultureller und sozialer Differenzen in der biografietheoretisch orientierten Forschung (→ Biografie) aufgezeigt, dass allein der Nachweis des Konstruktcharakters von Ethnizität deren gesellschaftliche Wirkung weder erklärt noch aufhebt, sondern dass es für beide Ziele → biografischen Lernens bedarf (Apitzsch, 2012).
Dem philosophischen und pädagogischen Diskurs hinterherhinkend fand erst durch das Zuwanderungsgesetz von 2004 in Deutschland ein Paradigmenwechsel in der staatlichen Migrationspolitik statt; erstmals wurde Deutschland als Einwanderungsland anerkannt. Dazu gehörte die Bereitstellung eines Bildungsangebots in Form von Integrationskursen zu demokratischem und sprachlichem Basiswissen (und z. T. die verpflichtende Teilnahme daran). In den Jahren nach 2015 rückten zunehmend Probleme von Flüchtlingen aus Krisenregionen ins Blickfeld (Klom, 2016). Im Mittelpunkt der Forschung zu Praxisformen der interkulturellen E. standen nun das Interaktionsfeld des Zweitsprachen-Erwerbs (→ Deutsch als Zweitsprache) und der beruflichen Bildung (→ Berufsbildung). Weiterhin wurden Geschlechterdifferenzen in der Bildungs- und Berufssituation thematisiert (→ Gender in der Erwachsenenbildung). Im Zusammenhang von Familienzusammenführung und Feminisierung der Migration entstand das bis heute im Bereich der Erwachsenenbildung mehr oder weniger professionalisierte Segment der interkulturellen Frauenarbeit. Eine Reihe von EU-Programmen schuf Angebote insb. für Frauen im Bereich → beruflicher Weiterbildung sowie der Ausbildung zu selbstständigen Unternehmerinnen.
In der internationalen Diskussion (z. B. in der Zeitschrift Intercultural Education) wurde der Fokus insb. in der Friedenserziehung von Jugendlichen und Erwachsenen zunehmend in Richtung auf eine Diversity Education verlagert, in der nicht mehr die Anerkennung gemeinsamer universaler Werte, sondern die Möglichkeit gegenseitiger Anerkennung trotz divergierender Wertvorstellungen ausgelotet wird (z. B. Sagy, 2017).
Literatur
Apitzsch, U. (2011). The concept of ethnicity and its relevance for biographical learning. In Z. Bekerman & T. Geisen (Eds.), International handbook of migration, minorities and education. Understanding cultural and social differences in processes of learning (pp. 53–66), Dordrecht (NL): Springer.
Eppenstein, T. (2003). Einfalt der Vielfalt? Interkulturelle pädagogische Kompetenz in der Migrationsgesellschaft (zugl. Diss., Univ. Frankfurt a. M., 2002). Frankfurt a. M.: Cooperative.
Klom, M. (2017). Angebote in Europa und ihre integrativen Aufgaben für Flüchtlinge (Reihe Erwachsenenpädagogischer Report, Bd. 55, Masterarbeit im Studiengang Erwachsenenbildung/Lebenslanges Lernen). Berlin: Humboldt-Universität.
Sagy, S. (2017). Can we empathize with the narrative of our enemy? A personal odyssey in studying peace education. Intercultural Education, 28(6), 1–11.
Sprung, A. (2012). Migration bewegt die Weiterbildung (?). Entwicklung, Trends und Perspektiven in Wissenschaft und Praxis. Report. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung, 35(4), 11–20.