Rolf Arnold & Hans-Joachim Müller
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-130
„Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun“ (Maturana & Varela, 1987). Diese These der beiden chilenischen Biologen benennt den Kerngedanken der handlungsorientierten D., dass → Lernen weniger durch Belehrung, sondern insb. durch selbstorganisierte Eigenbewegungen des Erschließens von neuem → Wissen und Können ermöglicht wird. H. D. wird deshalb auch als → Ermöglichungsdidaktik (Arnold et al., 2016) bezeichnet und kann der subjektiven Didaktik (Klaus Holzkamp) zugerechnet werden, deren Wurzeln u. a. auf das US-amerikanische Konzept des Self-Directed Learning zurückgehen. In ihren Lernarrangements stößt h. D. sowohl „innere“ Denk- und Reflexionsbewegungen an, mit denen neues Wissen und Können subjektiv konstruiert wird (→ Konstruktivismus), als auch „äußere“ Interaktions- und Kommunikationsbewegungen (→ Interaktion – Kommunikation) in der Lerngruppe, mit denen neues Wissen und Können in Form von gemeinsamen Lesarten „anschlussfähig“ modelliert wird.
Wenn → Lernende erleben, dass sie genau das tatsächlich können, was sie gerade dabei sind zu erlernen, dann stärkt dies ihre Gewissheit, neue Situationen selbstorganisiert sachgemäß bewältigen zu können. Dieses Selbstwirksamkeitserleben kann durch die didaktischen Instrumente Situierung, Produktisierung und Selbsterschließungsstrukturierung angebahnt, gefördert und gefestigt werden (Müller, 2016). Insb. die Selbsterschließung stellt den – durch Selbstreferenzialität und Strukturdeterminiertheit verursachten – inneren Begrenzungen des Menschen dessen selbstorganisierte „Bewegungen“ gegenüber, die als konstitutiv für das Pädagogische, d. h. für eine nachhaltige Kompetenzentwicklung (→ Kompetenz), gelten.
Merkmale der Handlungsorientierung finden sich bereits in den berufspädagogischen Konzepten (→ Berufsbildung) von Georg Kerschensteiner (1954–1932). In diesem Zusammenhang hat sich das „handlungsorientierende Lernarrangement“ (Müller 2011, S. 152ff.) mit dem Konzept der handlungsorientierten Lernschleife bewährt. Diese ermöglicht den Lernenden für ihre selbstständig-produktiven Such- und Erschließungsbewegungen einen möglichst großen Freiraum, der bis an die Grenzen ihrer Selbststeuerungsfähigkeiten reicht (→ Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen). Erst nach der Präsentation der Lernergebnisse übernehmen die Lehrenden als Lernbegleitende und Coaches (→ Coaching) die Führung für die diskursiv-reflexive Revision und Weiterführung des Erschließungsprozesses und greifen diejenigen Lernergebnisse auf, die einer Korrektur bzw. Weiterentwicklung bedürfen. Die pädagogische → Professionalität des „kaum noch Lehrenden“ kennzeichnet eine moderierende Haltung (→ Moderation) und subsidiäre Führung, also abwartende Geduld und der Verzicht auf Eingriffe.
Zentral erscheint das „Prinzip der dosierten Überforderung“ (Müller, 2016, S. 171f.): Die Lernenden erhalten „Lernaufgaben“, die als Auslöser für solche Lern-Bewegungen dienen, die nicht nur auf die Anpassung (Assimilation), sondern v. a. auf die Umstrukturierung (Akkommodation) ihres lernbiografischen Hintergrunds (→ Biografie) zielen. Unterstützend wirken „Selbsterschließungs-Anweisungen“, deren handlungsleitender Charakter es den Lernenden ermöglicht, bereits jetzt das zu tun, was sie eigentlich erst lernen sollen. Die indirekte Erschließung lenkt die Aufmerksamkeit der Lernenden auf das Herstellen materialer Produkte und weg von abstrakten Kompetenzen und farblosem Wissen. Jeder Zwischenzustand der Produktherstellung liefert den Lernenden konkretes Feedback und fordert neue Aktivitäten des Korrigierens und Weiterentwickelns heraus. Beides treibt das Aneignen neuen Wissens und Könnens an. Viele Lernende sind gedanklich und operativ so stark mit dem Gestalten und Perfektionieren „ihrer“ Produkte beschäftigt, dass sie dabei die eigene Kompetenzentwicklung kaum wahrnehmen.
Lernende werden im Konzept der handlungsorientierten D. als autopoietisch-selbstorgansierte → Systeme angesehen (→ systemische Erwachsenenbildung). Sie sollen die Verantwortung für ihren Lernprozess und ihre Lernergebnisse selbst übernehmen. Die h. D. bietet dazu u. a. die Instrumente der Selbstformulierung von Bewertungskriterien und der Selbstbewertung der Lernergebnisse (→ Evaluation). Damit sollen die zuvor ausgewählten Qualitätskriterien auf ihre Validität und Relevanz hin überprüft und eine kritisch-reflexive Revision der vollzogenen Arbeitsschritte, verwendeten Wissenselemente und erzielten Lernergebnisse angestoßen werden. Mögliche Fehler sollen selbst aufgedeckt, Verbesserungsvorschläge erarbeitet und so die bereits erreichten Lernergebnisse weiterentwickelt werden.
Literatur
Arnold, R., Gómez Tutor, C., Prescher, T. & Schüßler, I. (Hrsg.). (2016). Ermöglichungsdidaktik: Offene Fragen und Potenziale. Baltmannsweiler: Schneider.
Holzkamp, K. (1993). Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a. M.: Campus.
Maturana H. R. & Varela, F. J. (1987). Der Baum der Erkenntnis. Wie wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen – die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern (CH): Scherz.
Müller, H.-J. (2016). Ermöglichungsdidaktik zwischen Selbst- und Fremdsteuerung. Reflexionen zur wechselseitigen Verschränkung raumgebender und raumnehmender didaktischer Elemente. In R. Arnold, C. Gómez Tutor, T. Prescher & I. Schüßler (Hrsg.), Ermöglichungsdidaktik: Offene Fragen und Potenziale (S. 159–187). Baltmannsweiler: Schneider.
Müller, H.-J. (2011). Umsetzung prozessorientierter Berufsausbildung in der Textilwirtschaft. Die Konzeption des konstruktivistischen Lernparadigmas und der handlungsorientierten Prüfungen in Kontext der industriellen Textilberufe (Wissenschaftlichen Diskussions-Papiere, Bd. 130). Bonn: BIBB.