Norbert Reichling
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-123
Die Bezeichnung G. v. u. steht für eine seit den späten 1970er Jahren entstandene Strömung alternativen Forschens und Lernens – eine aktivierende Laien-Geschichtsschreibung aus den Blickwinkeln von Minderheiten und Marginalisierten als Aufhebung oder Korrektur konventioneller Geschichtsschreibung (→ Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – von 1945 bis 1990). „Von unten“ bezieht sich einerseits auf die Akteure, andererseits auf eine Betonung basaler Themen wie → Arbeit und → Alltag. Der Ansatz hatte internationale Vorbilder und war eng verknüpft mit der Geschichtswerkstätten-Bewegung, die in Deutschland die fortschrittsskeptischen sozialen Bewegungen der 1980er Jahre begleitete. Breitenwirkung erlangte er auch durch Außenseiter des Wissenschaftssystems sowie die Schülerwettbewerbe „Deutsche Geschichte“.
Seither haben Geschichtsdebatten und Historiografie Zugänge z. B. zur Arbeiter-, Geschlechter-, Migrations-, Alltagskultur- und Mentalitätsgeschichte aufgewertet und ihr Methoden- und Quellenrepertoire erweitert – v. a. durch den Einbezug von oral history und die Anerkennung des Quellenwerts von Alltagsrelikten, Medien usw. Die in der pathetischen Anfangsphase geforderte Rehabilitierung von vergessenen oder diskreditierten geschichtlichen Optionen (wie Maschinensturm, Rätesystem, Lebensreform) sowie die erhoffte → Perspektivverschränkung durch → intergenerationelle Bildung glückten nicht.
Auch in außerakademischen Feldern stieß die sog. Geschichtsbewegung seit Mitte der 1980er Jahre spürbare Modernisierungen an: Geschichts- und Heimatvereine sowie öffentliche Archive wandten sich neuen Fragestellungen zu (z. B. der Umwelt-, Stadtteil- und Betriebsgeschichte, vergessenen Opfern des Nationalsozialismus, unterschätzten Umbrüchen oder Kontinuitäten) und präsentierten ihre Resultate in Büchern, Filmen, Ausstellungen und auf Websites. In der DDR der 1980er Jahre versuchten sog. Arbeitsgemeinschaften junger Historiker, etwas von diesen Motiven aufzunehmen.
Das Selbstverständnis einer oppositionellen Bewegung, der identitätsstiftende Rekurs auf eindeutig emanzipatorische Kollektive und der Anspruch, die Rollendifferenz von Forschenden und Erforschten aufzuheben, sind inzwischen ebenso verflogen wie der Gebrauch des Ausdrucks G. v. u. Das Interesse für Mikrogeschichte und subjektive Quellen aber ist weithin anerkannt. Viele Aktive der Geschichtswerkstätten haben sich in Museen (→ Museumspädagogik), Gedenkstätten und anderen → Lernorten etablieren können; partiell ist auch eine privatwirtschaftliche → Professionalisierung (z. B. durch Forschungsbüros, Biografie- und Reiseagenturen) zu beobachten.
Wirkungen der G. v. u. auf die Erwachsenenbildung sind in zweierlei Richtung bemerkenswert: Zum einen machten die Geschichtswerkstätten viele Bildungseinrichtungen, insb. → Volkshochschulen und zeitweise auch Institutionen der → Arbeiterbildung, zu einem Forum zeitgeschichtlicher → Diskurse, und umgekehrt initiierten viele Lehrende in der Weiterbildung lokalhistorische Projekte (z. B. Zeitzeugengespräche, Erzählcafés, Ausstellungen, Stadtrundgänge). Zum anderen gingen von ihr Impulse didaktisch-methodischer Art aus (→ Didaktik – Methodik): Projektorientierung (→ Projektmethode), forschendes und → biografisches Lernen sowie offene Lernarrangements wurden hier erprobt und durchgesetzt.
Mit dem Internet sind Recherche- und Verbreitungswege für kritische wie unkritische Interventionen in die Geschichtskultur für „jedermann“ multipliziert: Die Zugänglichkeit von Archivalien und Publikationen wurde revolutioniert, Blogs und Social-Media-Kanäle erschließen nahezu mühelos Quellen, Deutungen und subjektive Zeugnisse, und fachliche wie populäre Foren können jederzeit genutzt oder neu eingerichtet werden. Die Folgen für historisch-politische Lernprozesse sind noch wenig abschätzbar.
Eine auf Emanzipation und „ungehörte Stimmen“ gerichtete Geschichtsarbeit sieht sich heute nicht nur diesen Erfahrungen ausgesetzt, sondern auch von der postmodernen Wissenskritik an apodiktischen Urteilen herausgefordert. Feministische, diversitätsorientierte und kolonialismuskritische Anfragen sind geeignet, etablierte Narrative aufzubrechen und geschichtskulturelle Debatten auf unabschließbare Kontroversität zu verpflichten.
Literatur
AutorInnenkollektiv Loukanikos. (Hrsg.). (2015). History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Münster: edition assemblage.
Bacia, J. & Wenzel, C. (2013). Bewegung bewahren: Freie Archive und die Geschichte von unten. Berlin: Archiv der Jugendkulturen.
Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg. (Hrsg.). (2004). Geschichtswerkstätten gestern – heute – morgen. Bewegung! Stillstand. Aufbruch? Hamburg: Dölling und Galitz.