Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – ab 1990

Martha Friedenthal-Haase & Elisabeth Meilhammer

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-122

Die deutsch-deutsche Vereinigung 1990 markiert eine einzigartige Zäsur in der E. Im Gebiet der früheren DDR stellte sich die Aufgabe, eine zentralistische, Staatszwecken untergeordnete Erwachsenen- und Weiterbildung in ein plurales, subsidiäres und demokratisches System zu transformieren und Anschluss an die gesamtdeutsche bildungspolitische und theoretische Diskussion zu finden. Eine besondere Rolle im Einigungsprozess kam den Volkshochschulen (vhs) zu, die in Ost- und West-Deutschland bestanden, eine gemeinsame, wenn auch gebrochene, aus der Weimarer Demokratie stammende Tradition hatten und eine gemeinsame Erwachsenenbildungsidee sichtbar machen konnten (Meisel, 1993; Otto, 1993). Für viele Menschen in den „neuen Bundesländern“ bedeutete die deutsch-deutsche Vereinigung neben der Notwendigkeit der politisch-sozialen Neuorientierung und der beruflichen Anpassungsqualifizierung (berufliche Weiterbildung; Fortbildung) oder Umschulung auch die Möglichkeit zur Befriedigung allgemeiner Bildungsbedürfnisse (z. B. westliche Fremdsprachen, Studienreisen, freie Diskussionsabende, Persönlichkeitsbildung). Auch wurde oft die Gelegenheit ergriffen, die jüngste Geschichte in Freiheit aufzuarbeiten und ein neues Geschichtsbild zu gewinnen (Geschichte von unten). Es ist jedoch festzustellen, dass von der deutsch-deutschen Vereinigung nicht in gleicher Weise Lernanstöße für die Bevölkerung in den „alten Bundesländern“ ausgingen.

In den 1990er Jahren intensivierte sich die Professionalisierung der E. (erweiterte Studienangebote an Universitäten, Zunahme von Beschäftigungsmöglichkeiten in der E. im Haupt- und Nebenberuf, Förderung der Forschung und Fachkommunikation durch das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung, DIE). Die Professionalisierung manifestiert sich in einem neuartigen Problem- und Forschungsstand zur E. (zur Information über empirische Befunde zur E. und Weiterbildung sowie zur Bildung im höheren und hohen Erwachsenenalter; Schrader et al., 2019). Fachwissenschaftlich und bildungspolitisch setzte ein Prozess der Europäisierung der E. ein (europäische Erwachsenenbildung). Die Europäische Union (EU) wurde zu einer prominenten Organisation für allgemeine E. und berufliche Weiterbildung, wenngleich ihre Bildungsziele z. T. in den wissenschaftlichen und bildungspolitischen Debatten kontrovers diskutiert wurden (Vergleichbarkeit der Qualifikationen als Voraussetzung für Mobilität und Beschäftigungsfähigkeit, grenzüberschreitende soziale Kohärenz und Stabilität der Demokratien). In den folgenden Jahrzehnten betrafen wichtige Initiativen und Strategien auf europäischer oder nationaler Ebene die Anerkennung informell erworbener Kompetenzen (Anerkennung –
Validierung
), die Förderung selbstgesteuerten Lernens (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen), die Etablierung neuer Lernkulturen (z. B. Lernfeste), die Schaffung eines Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen, die Einführung von Qualitätsmanagementsystemen (Qualität), die Stärkung des Wirtschaftsraums durch E. und Weiterbildung, insb. auch mit Blick auf Geringqualifizierte, die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Integration durch E., insb. hinsichtlich großer Zuwanderungsbewegungen (Migration).

An der Schwelle zum neuen Jahrtausend richtete sich der Blick zudem auf die Bedeutung des lifelong learning in internationaler Hinsicht. Dabei war es auch der deutschen E. noch nicht in hinreichendem Maße möglich, dem globalen, in allen Wohlstandsgesellschaften anhaltenden demografischen Entwicklungstrend (demografischer Wandel) zur Umschichtung der Gesellschaften nach Lebensalter (durch Geburtenrückgang einerseits und Steigerung der Lebensdauer der Menschen andererseits) breitenwirksam innovativ zu entsprechen (Schmidt-Hertha & Tippelt, 2019).

Im 21. Jh. gewinnen globale Problemstellungen für nationale Diskurse der E. und Weiterbildung an Gewicht, z. B. im Zuge der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (UN) von 2015 (Nachhaltigkeit). An den großen Themen zeigt sich die enge Verbindung der E. mit wirkungsvoller Bürgerbildung.

Das Erfordernis evidenzbasierten Wissens über den Bildungsstand in der Bevölkerung bestärkt seit den 2000er Jahren die Bildungsberichterstattung in nationaler und international vergleichender Hinsicht – angetrieben u. a. durch die Europäische Union (EU), die Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) und die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO); wichtigen Problemlagen (wie Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und Alphabetisierung und Grundbildung) werden thematische „Dekaden“ für Strategien und Aktionen gewidmet. Die systematisch aufbereitete Auswertung der Daten zeigt sich in neuartiger Breite, z. B. Nationaler Bildungsbericht (veröffentlicht in zweijährigem Turnus seit 2006), Adult Education Survey (veröffentlicht in zweijährigem Turnus seit 2007), Analyse der Trends der Weiterbildung (2021 in vierter Ausgabe erschienen; Widany et al., 2021), Deutscher Weiterbildungsatlas (2021 in dritter Aktualisierung erschienen; Martin, Schoemann & Schrader, 2021). Bei empirischen Studien wurden auch neue Kriterien zur Wirksamkeit der Weiterbildung operationalisiert, differenziert u. a. nach monetären und nicht-monetären sowie nach makro- und mikroökonomischen Wirkungen und Erträgen (Erträge von Erwachsenen- und Weiterbildung) (z. B. Schrader, Ioannidou & Blossfeld, 2020).

2019 wurde erstmals in Deutschland eine nationale, auf Beschäftigung und Fachkräftegewinnung gerichtete Weiterbildungsstrategie in gemeinsamer Trägerschaft von Bund, Ländern, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Kammern und der Bundesagentur für Arbeit etabliert.

Einschneidende Ereignisse für die Weiterentwicklung der E. sind die sog. Flüchtlingskrise 2015/16 mit über 1 Mio. Zuwandernden, die Corona-Pandemie ab 2020 (Fragen der Sicherung der Zukunftsfähigkeit von Erwachsenenbildungseinrichtungen sowie der Digitalisierung des Erwachsenenbildungsbereichs und neuer umfassender Erfordernisse nach digitaler Kompetenz der gesamten Bevölkerung) und die Zuwanderung durch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine ab 2022.

Die Geschichte der E. verdeutlicht als durchgängiges Motiv das lernende Subjekt in seinem Lebenslauf, mit seinem Streben nach Selbstbestimmung und Verbesserung seiner Lebenssituation. Zugleich wird ein strukturelles Spannungsverhältnis sichtbar: Das subjektive Bildungsstreben wird gelenkt, eingeengt, angeregt oder gefördert durch die kulturellen, politischen und sozialen Gegebenheiten, in die es verflochten ist, zudem durch die Interessen und den Gestaltungswillen anderer, mit denen es konfrontiert ist. Mit Blick auf die Geschichte der E. in Deutschland im 20. Jh. und beginnenden 21. Jh. zeichnen sich durchgehend einige Grundlinien der Fachentwicklung ab. Zu diesen gehören langfristig u. a. die Verflochtenheit der E. in die Dynamik der Modernisierung, eine Periodisierung des Fachs im Zusammenhang mit dem Wechsel der politischen Systeme, eine polyzentrische und pluralistische Signatur, Verwissenschaftlichung und Akademisierung, eine Intensivierung der Anforderungen an Bildung in Krisen und Ausnahme­situationen sowie eine sich trotz Rückschlägen durchsetzende Tendenz zu internationaler Kooperation und interkultureller Begegnung (Friedenthal-Haase, 2001, S. 13–32). Durch beachtliche Fortschritte in der empirischen Forschung zur E. sind seit der Jahrtausendwende zunehmend wissenschaftlich gesicherte Anhaltspunkte für das didaktische und das bildungspolitische und -ökonomische Handeln im weitesten Sinne gewonnen worden (Schrader et al., 2019). In bildungs- und politikwissenschaftlicher Sicht belegt die historische Entwicklung eindeutig ein Wechselverhältnis zwischen Demokratie und E.: ohne Demokratie keine freie E., ohne freie E. keine krisenfeste Demokratie.

Literatur

Arnold, R., Pätzold, H. & Ganz, M. (2018). Weiterbildung und Beruf. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften,
6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 2, S. 931–935). Wiesbaden: Springer VS.

Friedenthal-Haase, M. (Hrsg.). (2001). Erwachsenenbildung im 20. Jahrhundert – Was war wesentlich? München: Hampp.

Martin, A., Schoemann, K. & Schrader, J. (2021). Deutscher Weiterbildungsatlas 2019. Kreise und kreisfreie Städte im Längsschnitt (Reihe DIE Survey. Daten und Berichte zur Weiterbildung, Bd. 13). Bielefeld: wbv Publikation.

Meisel, K. (Hrsg.). (1993). Erwachsenenbildung in den neuen Ländern. Recherchen, Momentaufnahmen, Explorationen. Frankfurt a. M.: PAS DVV.

Otto, V. (Hrsg.). (1993). Offene Volkshochschule, neue Herausforderungen: Deutschland und Europa in der Einen Welt. IX. Deutscher Volkshochschultag Kassel 1991. Bonn: DVV.

Schmidt-Hertha, B. & Tippelt, R. (2019). Bildung im höheren und hohen Erwachsenenalter. In O. Köller u. a. (Hrsg.), Das Bildungswesen in Deutschland. Bestand und Potenziale (utb 4785, S. 809–834). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Schrader, J., Ioannidou, A. & Blossfeld, H.-P. (Hrsg.). (2020). Monetäre und nicht monetäre Erträge von Weiterbildung (Reihe Edition ZfE, Bd. 7). Wiesbaden: Springer VS.

Schrader, J. & Rossmann, E. D. (Hrsg.). (2019). 100 Jahre Volkshochschulen. Geschichten ihres Alltags (hrsg. v. Deutschen Volkshochschul-Verband & Deutschen Institut für Erwachsenenbildung). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Schrader, J. et al. (2019). Erwachsenen- und Weiterbildung, Bildung im höheren und hohen Alter. In O. Köller et al. (Hrsg.), Das Bildungswesen in Deutschland. Bestand und Potenziale (Kap. VI, utb 4785, S. 697–834). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Widany, S., Reichart, E., Christ, J. & Echarti, N. (Hrsg.). (2021). Trends der Weiterbildung. DIE-Trendanalyse 2021 (Reihe DIE Survey. Daten und Berichte zur Weiterbildung, Bd. 10). Bielefeld: wbv Publikation.

Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – von 1945 bis 1990
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