Europäische Erwachsenenbildung

Susanne Lattke

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-087

Der Begriff e. E. ist nicht präzise definiert. In der Praxis werden damit v. a. zwei unterschiedliche Dimensionen angesprochen: Zum einen geht es um die Gestaltung der Erwachsenenbildung in den unterschiedlichen europäischen Ländern, der sich die internationale Forschung zur Erwachsenen- und Weiterbildung und die international vergleichende Erwachsenenbildungsforschung widmen. Zum anderen werden hierbei die Aktivitäten europaweit oder annähernd europaweit operierender Akteure in den Blick genommen. Zu letzteren zählen nicht-staatliche Verbände wie die European Association for the Education of Adults (EAEA) oder die European Society for Research on the Education of Adults (ESREA) sowie staatliche inter- bzw. supranationale Organisationen wie der Europarat und die Europäische Union (EU). Darüber hinaus gehören hierzu auch informelle Zusammenschlüsse und Netzwerke, die trotz ihres formal wenig geregelten Status eine erhebliche Dynamik entfalten können. Herausragendes Beispiel hierfür ist der Bologna-Prozess, der von keiner Organisation, sondern unmittelbar von den miteinander kooperierenden Hochschulministerinnen und -ministern der beteiligten europäischen Länder initiiert wurde.

Die Unterschiede zwischen den Weiterbildungssystemen der europäischen Nationalstaaten sind nach wie vor groß. Es lassen sich v. a. Unterschiede zwischen einer stärker institutionalisierten und systemisch ausgebauten Erwachsenenbildung in Nordeuropa und einer stärker projekt- und prozessbezogenen Erwachsenenbildung in den Mittelmeerstaaten erkennen. Die neuen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa unterscheiden sich wiederum durch die spezifische Rolle, die der Erwachsenenbildung während ihrer Transformation vom sozialistischen zum marktwirtschaftlichen System zukommt (Erwachsenenbildung in Übergangsgesellschaften). Trotz dieser systemischen sowie der vorhandenen sprachlichen und kulturellen Differenzen zeichnet sich eine zunehmende Annäherung der unterschiedlichen Entwicklungen von Erwachsenenbildung in Europa ab. Dabei erweist sich der überstaatliche Zusammenschluss der EU, der auch Finanzen und ordnungspolitische Instrumente umfasst, als treibendes Moment. So kann aufgrund der seit den Maastrichter Verträgen (1993) stetig ausgebauten Aktivitäten der EU mittlerweile vom Vorhandensein einer „europäischen Erwachsenenbildungspolitik“ gesprochen werden, die sich über die EU-Mitgliedstaaten hinaus auch auf andere europäische Länder (Beitrittskandidaten, Europäischer Wirtschaftsraum) auswirkt.

Erwachsenenbildung und Bildung insgesamt haben in der Politik der EU bis zu den Maastrichter Verträgen nur die Rolle eines Instruments im Rahmen regionaler Strukturpolitik und eines Elements von Arbeitsmarktpolitik gespielt. Wenn Erwachsenenbildung thematisiert wurde, dann betraf sie die berufliche Fortbildung. In den Verträgen von Maastricht (Art. 3) wird Bildungspolitik erstmals explizit als eigenständige Gemeinschaftsaufgabe der EU definiert. Konkret ausgeführt wird dies in den Art. 126 und 127, die sich auf die Förderung einer „qualitativ hochstehenden Bildung“ (insb. allgemeinen Bildung) bzw. auf eine „Politik der beruflichen Bildung“ beziehen. Mit beiden Artikeln verfolgt die EU v. a. die Ziele, die Mobilität von Lernenden und Lehrenden zu erhöhen, die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Einrichtungen zu verbessern und den Informations- und Erfahrungsaustausch über gemeinsame Probleme der Bildungssysteme auszubauen (internationale Zusammenarbeit). Weitere Ziele im Bereich der allgemeinen Bildung sind die Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen, insb. durch das Erlernen und Verbreiten von Fremdsprachen, die Förderung der Entwicklung der Fernlehre (Fernstudium; Fernunterricht) sowie des Jugendaustauschs. Auf dem Gebiet der beruflichen Bildung (Berufsbildung) werden als zusätzliche Ziele ein verbesserter Zugang zu dieser, eine Erleichterung der Anpassung an industrielle Wandlungsprozesse und die berufliche (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt genannt. Diese Bestimmungen bilden bis heute die rechtliche Grundlage der EU-Aktivitäten im Bildungsbereich.

Die politische Umsetzung erfolgt nach dem Prinzip der Subsidiarität, demzufolge die Gemeinschaft im Bildungsbereich nur tätig werden darf, sofern die Ziele der betreffenden Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können. Die EU darf demnach nur ergänzend und unterstützend tätig werden, während Eingriffe in die nationale Bildungspolitik (Weiterbildungspolitik), insb. in die Gestaltung der Bildungssysteme und der Lehrinhalte (Curriculum; Inhalte – Themen), ausdrücklich ausgeschlossen sind. Der in früheren Jahren verfolgte Ansatz einer Harmonisierung nationalstaatlicher Regelungen auch in bildungsrelevanten Bereichen (z. B. hinsichtlich der Berufsabschlüsse) wurde damit aufgegeben.

Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips konzentrierte sich die europäische Politik in Bildungsfragen nach Maastricht auf zwei Ebenen: Auf einer diskursiven Ebene treibt die EU über die Veröffentlichung programmatischer Dokumente sowie die Initiierung europaweiter Konsultationsprozesse die Rahmung und Weiterentwicklung einer europäischen Bildungspolitik voran. So erschien 1995 das Weißbuch „Lehren und Lernen: Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft“, das sowohl arbeitsmarktbezogene als auch pädagogische Aspekte aufgreift. Im Jahr 2000 publizierte die Europäische Kommission ein „Memorandum über lebenslanges Lernen“, dem ein Jahr später eine Mitteilung folgte, in welcher die Errichtung eines „europäischen Raumes des lebenslangen Lernens“ als Ziel postuliert und Aktionsschwerpunkte für künftiges Handeln benannt werden. Waren Aspekte der Erwachsenenbildung in diesen Diskursen stets präsent, so gewann der Bereich erst ab 2006 ein eigenständiges Profil, als ihm erstmals eine eigene Kommissionsmitteilung „It is never too late to learn“ gewidmet und ein Jahr darauf auch ein spezifischer Aktionsplan für Erwachsenenbildung erarbeitet wurde.

Daneben ist die EU seit Maastricht auf einer förderpolitischen Ebene aktiv, wobei durch europäische Förderprogramme die länderübergreifende Zusammenarbeit und Vernetzung im Bildungsbereich ausgebaut und gezielt übergreifende Projekte und Aktivitäten zu Bildungsfragen in Europa realisiert werden sollen. Ab 1995 bestanden Programme für die berufliche Weiterbildung (LEONARDO) bzw. für die allgemeine Bildung (­SOKRATES). Im Jahr 2007 wurden sie in einem gemeinsamen EU-Bildungsprogramm zum Lebenslangen Lernen zusammengefasst, welches seit 2014 unter dem Namen Erasmus+ läuft. Der Erwachsenenbildung wurde bereits 1998 im Rahmen von SOKRATES eine eigene, im Vergleich mit dem Schul- und Hochschulbereich allerdings kleine Unteraktion gewidmet. An dieser Gewichtung hat sich bei insgesamt steigender finanzieller Ausstattung des EU-Bildungsprogramms nichts geändert. Bis heute entfällt auf die Förderung der Erwachsenenbildung im Rahmen von Erasmus+ lediglich ein Anteil von ca. vier bis fünf Prozent des Budgets (Finanzierung der Weiterbildung, international).

Mit der Einführung der Methode der offenen Koordinierung im Bildungsbereich im Jahr 2000 hat die europäische Erwachsenenbildungspolitik eine neue Qualität erhalten. Bei diesem ursprünglich dem wirtschaftspolitischen Bereich entnommenen Verfahren vereinbaren die Mitgliedstaaten gemeinsame politische Ziele, deren Erreichungsgrad in jedem beteiligten Staat fortlaufend anhand gemeinsam festgelegter Indikatoren durch die Kommission überprüft (Evaluation) und in regelmäßigen Berichten publik gemacht wird. Während so formal das Subsidiaritätsprinzip gewahrt bleibt, wächst gleichzeitig der öffentliche Druck auf die einzelnen Mitgliedstaaten, ihre nationalen Politiken auf europäisch einheitliche Ziele auszurichten.

Inhaltlich stehen in der EU-Politik als übergeordnete Ziele die Erhöhung der Qualität und Wirksamkeit der Bildungssysteme, die Verbesserung des Zugangs zu Bildungsangeboten für alle Bürgerinnen und Bürger sowie eine Öffnung der Bildungssysteme gegenüber der (außereuropäischen) Welt im Vordergrund. Erreicht werden soll ein höheres Qualifikationsniveau (Qualifikation) der Gesamtbevölkerung sowie die Sicherung des Erwerbs von Schlüsselkompetenzen (Schlüsselqualifikationen) durch jeden Einzelnen. Zu diesem Zweck sollen u. a. die räumliche, zeitliche und organisatorische Flexibilität von Lernangeboten gesteigert, die Bewertung und Anerkennung von Lernergebnissen verbessert, die Qualifizierung des Personals gefördert und der Aufbau von Informations- und Beratungsstrukturen (Beratung im Kontext lebenslangen Lernens) vorangetrieben werden.

Während die konkrete Umsetzung dieser Ziele in der Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten liegt, werden auf EU-Ebene unterstützende Maßnahmen zur Verbesserung von Transparenz und länderübergreifender Kooperation vorangetrieben. Hierzu zählen die Entwicklung von Qualitätsstandards, Benchmarks und Indikatoren, die Bereitstellung von Datenbanken und Informationsportalen, die Erarbeitung multilingualer Glossare, die Schaffung von organisatorischen Rahmen für den Erfahrungsaustausch nationaler Bildungsexpertinnen und -experten sowie die Erarbeitung gesamteuropäischer Referenzinstrumente, wie des 2007 vom Europäischen Parlament verabschiedeten Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR).

Das Konzept des Lebenslangen Lernens (lifelong learning), wie es von der EU vertreten wird, prägt mittlerweile wesentlich die nationalstaatlichen bildungspolitischen Diskurse in Europa. Bedeutsam dabei ist eine Verlagerung der Perspektive von einer Fokussierung auf Angebote, Weiterbildung in Institutionen, Lehre (Lehren), Curricula und formale Abschlüsse hin zu den Lernenden, ihren individuellen Lernbedarfen und die de facto erzielten Lernergebnisse. Diese Outcome-Orientierung hat eine prinzipielle Gleichwertigkeit von formaler (d. h. abschlussbezogener), non-formaler (d. h. nicht-abschlussbezogener, aber organisierter) und informeller Weiterbildung (d. h. nicht-organisiertes Lernen im Alltag und in sozialen Kontexten) zur Folge ( formale – non-formale – informelle Bildung). Die Gleichbehandlung von Lernergebnissen und Kompetenzen, unabhängig von den Wegen, auf denen sie erworben wurden, mithilfe entsprechender Validierungsverfahren (Kompetenzerfassung; Kompetenzmessung) stellt so einen wichtigen Arbeitsschwerpunkt in der europäischen E. dar.

Die europäische Erwachsenenbildungspolitik orientiert sich seit ihren Anfängen an übergeordneten Strategieprozessen wie der sog. Lissabon-Strategie (2000 bis 2010) und deren Nachfolgeprogramm Europa 2020. Verfolgte die Lissabon-Strategie das Ziel, die Union bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, wird mit Europa 2020 ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum angestrebt. Im Rahmen beider Strategien bildet das lebenslange Lernen ein Schlüsselelement. Hiermit sollen Beschäftigungsfähigkeit, gesellschaftliche Teilhabe und persönliche Entwicklung der Bürgerinnen und Bürger gefördert sowie Wirtschaftswachstum und sozialer Zusammenhalt in der EU gestärkt werden. Trotz der regelmäßigen Betonung sozialer wie auch persönlicher Ziele in den einschlägigen EU-Verlautbarungen wird vielfach ein faktisches Übergewicht ökonomischer (Wirtschaftlichkeit) und arbeitsmarktrelevanter Aspekte und eine entsprechende Instrumentalisierung des lebenslangen Lernens durch die EU-Bildungspolitik kritisiert (Becker, 2013).

Literatur

Becker, P. (2013). Die europäische Bildungspolitik – Entstehung und Entwicklung eines europäischen Politikfeldes. In K. Amos, J. Schmid, J. Schrader & A. Thiel (Hrsg.), Europäischer Bildungsraum. Europäisierungsprozesse in Bildungspolitik und Bildungspraxis (S. 37–61). Baden-Baden: Nomos.

Berner, E. & Gonon, P. (Eds.). (2016). History of vocational education and training in Europe. Bern (CH): Peter Lang.

Bohlinger, S. (2020). Der lange Weg zum lebenslangen Lernen. Steuerung der Erwachsenenbildungspolitik in Europa. Weiterbildung, 3, 14–17.

Europäische Kommission. (2007). Aktionsplan Erwachsenenbildung. Zum Lernen ist es nie zu spät (Mit­teilung KOM(2007) 558). Brüssel (BE): EU-Kommission.

Nuissl, E., Lattke, S. & Pätzold, H. (2010). Europäische Perspektiven der Erwachsenenbildung (Reihe Studientexte für Erwachsenenbildung, Bd. 12). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Lattke, S. (2020). Europäische Union. In P. Krug & E. Nuissl (Hrsg.), Praxishandbuch WeiterbildungsRecht. Fachwissen und Rechtsquellen für das Management von Bildungseinrichtungen (Loseblattwerk, Kap. 11.0, S. 1–103). Neuwied: Luchterhand.

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