Karen Joisten
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-085
Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe „Moral“ und E. fälschlicherweise häufig synonym verwendet. Während „Moral“ als Inbegriff eines Systems von geltenden Werten, Normen, Regeln und Institutionen verstanden werden kann, lässt sich E. als kritische Reflexion des normativen Systems der Moral definieren. E. im Sinne einer Moraltheorie untersucht und hinterfragt demnach die einer Moral immanente innere Logik ihrer Argumentationen, den Gehalt ihrer Begriffe und ihre impliziten Setzungen und Vorannahmen. „Sie versucht, bestehende Moralen zu verteidigen oder zu widerlegen, vorgeschlagene Moralen zu prüfen und die richtige Moral auszuwählen oder sogar ein eigenständiges Moralsystem zu entwerfen. Entsprechend ist sie durch eine legitimatorische Perspektive gegenüber der Moral gekennzeichnet“ (Hübner, 2018, S. 22).
In der abendländischen Tradition sind drei ethische Zugänge zur Moral etabliert und allgemein akzeptiert. So können moralische Normen, Wertvorstellungen und Werturteile, die in gesellschaftlichen Institutionen oder in persönlichen Einstellungen und Haltungen präsent sind, mithilfe der normativen E., der deskriptiven E. und der Metaethik jeweils spezifisch untersucht werden. Jeder der genannten ethischen Zugänge repräsentiert einen eigenen E.-Typus, der mittlerweile jeweils höchst ausdifferenziert ist:
- Die normative E. versucht Antworten auf das richtige Handeln zu geben, um dadurch –
wie es in Anlehnung an Immanuel Kant (→ Aufklärung) gesagt werden könnte – die Moralität der Moral kritisch zu reflektieren. Sie zielt demnach auf eine begründete Moral und auf normative Handlungsanweisungen, die dem Menschen eine verbindliche Orientierung geben können. - Die deskriptive E. macht es sich zur Aufgabe, Moral(en) in ihrer Komplexität, aber auch in ihren Ausdrucksformen aus einer Außenperspektive zu beschreiben, um sie kausalen Erklärungen zugänglich zu machen.
- Bei der Metaethik verweist die Vorsilbe „Meta“ darauf, dass dieser Typus über der E. als eine Art → Diskurs höherer Ordnung zu kennzeichnen ist. Sie rückt die Frage nach dem prinzipiellen Status und dem Gehalt von moralischen Begriffen, Aussagen und Argumentationsweisen ins Zentrum.
Für die → Erwachsenen- und Weiterbildung eröffnet der Prozess der Relektüre ethischer Positionen auf einer prinzipiellen Ebene die Möglichkeit, in eine kritische Auseinandersetzung mit moralischen „Lesarten“ und ihren Internalisierungen einzutreten (→ Ethik professionellen Handelns). Im Verstehen der Weisen, wie Moral hinterfragt und kritisiert werden kann und wie ethische „Antworten“ in sich stimmig entfaltet und begründet werden, bietet sie die Chance einer ethischen Selbst- und Fremderkenntnis. Die rationale Distanzierung mit ihrer Erkenntnis, welche Werte, Normen und Regeln angelernt und wirksam sind, kann der erste Schritt hin zu Neuorientierungen auch im Fühlen und Wollen werden und zu einer authentischen Selbstveränderung führen.
Im Zusammenhang mit diesem komplexen Aneignungsprozess der eigenen Person in moralisch-ethischer Hinsicht steht auch die wichtige Unterscheidung zwischen „Werten“ und „Tugenden“. Während der Begriff „Wert“ als eine bewusste oder unbewusste Orientierung für das Handeln des Menschen bestimmt werden kann, steht der Begriff „Tugend“ für einen habitualisierten Wert (→ Habitus). So kann sich ein Mensch bspw. an dem Wert der Höflichkeit orientieren und ihn als einen solchen erfassen; allerdings ist eine permanente Übung erforderlich, damit dieser Wert in eine Tugend, eine Haltung, verwandelt werden kann.
Der ethisch-moralische Bildungsprozess ist demnach gleichbedeutend mit der Werteerziehung und der Erziehung hin zu gefestigten Haltungen (Tugenden); er kann aufgrund des Widerfahrnischarakters menschlichen Handelns immer wieder von neuem dekonstruiert werden. Gelingt dies, kann eine Umkehr im Denken, Wollen, Fühlen und Handeln vollzogen werden und sich das Selbst – trotz und in seiner Stabilität – in veränderter Weise identitätsbildend konstituieren (→ Identität).
Literatur
Joisten, K. (Hrsg.). (2007). Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen. Berlin: Akademie.
Hübner, D. (2018). Einführung in die philosophische Ethik (2., durchges. u. korr. Aufl., utb 4121). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Reichenbach, R. (2018). Ethik der Bildung und Erziehung. Essays zur Pädagogischen Ethik (Reihe Grundstudium Erziehungswissenschaft, utb 4859). Paderborn: Ferdinand Schöningh.