Erwachsenwerden

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-084

Das E. markiert den wenig bewussten Referenzrahmen für alle Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen in einer Gesellschaft. Wer „erwachsen“ ist, muss nicht mehr erzogen werden, und Bildung erwirbt man, um in seinem Erwachsenenleben, „sich selbst und die Welt zu verstehen und diesem Verständnis gemäß zu handeln“ – so lautet die mittlerweile klassische Definition des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen aus den 1960er Jahren. Darin wird „Bildung“ mit selbstverantwortlicher und reflektierter Lebensführung gleichgesetzt: Wer „gebildet“ ist, gilt als „erwachsen“. Dies ist eine Gleichsetzung, die allerdings nicht in umgekehrter Reihenfolge gilt. Bei Kindern und Jugendlichen sprechen wir nicht von „Bildung“ im Sinne einer abgeschlossenen Kompetenzentwicklung (Kompetenz), sondern lediglich von „Bilden“ im Sinne eines Erziehens. So betrachtet scheint das Erwachsensein auf den ersten Blick durch sein Gegenteil bzw. seine Unterscheidung definiert zu sein: „Der Begriff des Kindes wird durch den Gegenbegriff des Erwachsenen definiert, schließt also das Erwachsensein aus“ (Luhmann, 1997).

Das Erwachsensein präsentiert sich in den modernen Gesellschaften so vielfältig wie noch nie, sodass es auch immer schwieriger wird, die Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen wirklich substanziell, d. h. über eine bloß altersmäßige Definition hinausgehend, zu bestimmen. Die selbstreflexive Wahrnehmung und Gestaltung der eigenen biografischen Kontinuität beinhalten ein anderes Verhältnis von Kind und Erwachsenem als das der Unterscheidung. Biografie stiftet Erfahrungen, weshalb Erwachsene in anderer Weise lernen als Kinder und Jugendliche: „Lerninhalte, die nicht mit erlebten Erfahrungen verknüpft werden können, bleiben ‚äußerlich‘, während Inhalte, die im eigenen Leben verankert werden können, ‚nachhaltig‘ angeeignet werden können“ (Arnold, Nuissl & Rohs, 2017, S. 130).

Der Erwachsene ist in seinem Erwachsensein und seinen Aneignungsformen (Aneignung – Vermittlung) durch die als innere Strukturbesonderheiten „fortwirkende Kindlichkeit“ in spezifischer Weise geprägt, weshalb wir „nie erwachsen werden“ (Lempp, 2003). Diesen Sachverhalt beschrieb bereits der US-amerikanische Schriftsteller Robert Bly (1996) in seinem Buch „Die kindliche Gesellschaft“ mit dem treffenden Untertitel „Über die Weigerung, erwachsen zu werden“ mit Blick auf die gesellschaftstypischen Ausdrucksformen des erwachsenen Kindes. Solche, den Individuierungsprozess und die innere Reifung im Lebenslauf betreffenden Überlegungen wurden im erwachsenenpädagogischen Diskurs nur vereinzelt aufgegriffen. Der Fokus war insb. auf die die bestehenden sozialen, rechtlichen sowie ökonomische Differenzen zwischen den jugendlichen und den erwachsenen Lernenden und ihren Rollen und Rechten in der Gesellschaft gerichtet.

Seit den späten 1980er Jahren wurden die Prozesse des Erwachsenwerdens verstärkt als Suchbewegungen eines lebenslangen „Kampfes“ um Identitätssicherung und Identitätserhalt (Identität) interpretiert. Man griff bei dieser Identitätswende auf die frühen Arbeiten von George Herbert Mead (1863–1931), Erving Goffman (1922–1982) oder Erik H. Erikson (1902–1994) zurück, mied aber weitgehend individualpsychologische Vertiefungen (Bittner, 2001). Neuere Einsichten in die Wirkmechanismen kognitiver (Kognition) und emotionaler Reifung im Lebenslauf (Emotion – emotionale Kompetenz) sowie erwachsenenpädagogische Bemühungen um das E., die Identitätsentwicklung bzw. das Selbst, dessen Sicherung, Stärkung und Förderung sowie Weiterentwicklung bzw. Transformation haben die Formen einer erwachsenenpädagogischen Identitätsarbeit teilweise auf neue Beine gestellt (Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalter). Dabei war es nicht in erster Linie eine erwachsenenpädagogische Psychologie, sondern vielmehr die Hirnforschung (z. B. Roth, 2021), welche auch die Erwachsenenbildung nachdrücklich anregte und manche ihrer Leitbegriffe, z. B. Identität bzw. Persönlichkeit, neu justierte. Dadurch öffnete sich das Identitätslernen einer proaktiven Strategie, die die Lernenden nicht mit Konzepten eines „Lernens von der Vergangenheit“ begleitet, sondern sie in ihren Fähigkeiten stärkt, sich gegenüber der Welt der eigenen Möglichkeiten zu öffnen und deren Gestaltung in den Fokus zu rücken.

Damit rückt die Plastizität der Strukturbesonderheiten, die sich früher Prägung verdanken, in den Blick und das E. wird substanziell neu bestimmt. Erwachsensein wird nicht länger durch die Leitdifferenz zum Kindsein definiert, sondern vor dem Hintergrund einer integrativen Sicht, welche das E. nicht länger durch die Unterscheidung des einen (Kindsein) vom anderen (Erwachsensein) zu erfassen versucht, sondern auch das Fortdauern des einen im anderen in den Blick rückt.

Literatur

Arnold, R., Nuissl, E. & Rohs, M. (2017). Erwachsenenbildung. Eine Einführung in Grundlagen, Probleme und Perspektiven. Baltmannsweiler: Schneider.

Bittner, G. (2001). Der Erwachsene. Multiples Ich in multipler Welt. Stuttgart: Kohlhammer.

Bly, R. (1996). Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung, erwachsen zu werden. Hamburg: Kindler.

Lempp, R. (2003). Das Kind im Menschen. Über Nebenrealitäten und Regression – oder: Warum wir nie erwachsen werden. Stuttgart: Klett-Cotta.

Luhmann, N. (1997). Erziehung als Formung des Lebenslaufs. In N. Luhmann & D. Lenzen (Hrsg.), Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form (S. 11–29). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Roth, G. (2021). Über den Menschen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Erwachsenenbildung in Übergangsgesellschaften
Ethik