Ekkehard Nuissl
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-079
E.- und W. ist in Deutschland zwar quantitativ und qualitativ als eigenständiger Bildungsbereich erkennbar und seit 1970 vom → Deutschen Bildungsrat als „vierte Säule des Deutschen Bildungssystems“ deklariert, andererseits aber nur in Teilbereichen systematisch gestaltet oder geordnet. Bislang gilt die Definition des Deutschen Bildungsrats für die Abgrenzung von E.- und W. als „Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase“, meist verstanden als Bildungsphase mit einem berufsqualifizierenden Abschluss (→ abschlussbezogene Weiterbildung). Die Begriffe E. und W. betonen dabei unterschiedliche Aspekte: den Charakter der Adressaten („Erwachsene“) und die Fortsetzung einer vorhergehenden Bildung („Weiterbildung“).
Die Geschichte der Begriffe E. und W. ist zugleich ein Spiegel der Geschichte dieses Bildungsbereichs. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts noch „Volksbildung“ genannt, bürgerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der Korrumpierung des Begriffs „Volk“ durch den Faschismus der Begriff „Erwachsenenbildung“ ein. Er bezeichnete ein gewachsenes, unstrukturiertes Nebeneinander von Bildungsaktivitäten. Mit dem Begriff „Weiterbildung“ wurde in den 1970er Jahren versucht, die Bildungsaktivitäten von Erwachsenen in den Kontext des Bildungssystems zu stellen – eine bildungspolitische Setzung für den neu definierten quartären Bildungsbereich. Im Zuge tiefgreifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse gewann die Bildung Erwachsener insb. auch im beruflichen Bereich (→ Berufsbildung) eine immer größere Bedeutung. „Weiterbildung“ wurde zunehmend als → berufliche Weiterbildung konnotiert. Auch wenn die Begriffe E. und W. mittlerweile meist synonym gebraucht werden, wird „Erwachsenenbildung“ daher eher als allgemeine, „Weiterbildung“ eher als berufliche Bildung Erwachsener (→ berufliche Weiterbildung) verstanden.
E. und W. sind in Deutschland historisch gewachsen und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen entstanden. Die Entstehungsgeschichte der E. und W. im heutigen Deutschland hat verschiedene Wurzeln (→ Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – von 1933 bis 1945). Prägend waren hier u. a. Kants Aufklärungskonzeption (→ Aufklärung; → Lesegesellschaften); die Entstehung der → Arbeiterbildung, die sich früh für ein gesamtgesellschaftliches, integrierendes und (politisch) aufklärerisches Bildungsverständnis eingesetzt hat; die Handwerkerbildung, teilweise organisiert in den Zünften; erste Formen von → betrieblicher Weiterbildung, wie sie sich im Zuge der Industrialisierung in Anlernprozessen am Arbeitsplatz (→ Lernen am Arbeitsplatz), innerbetrieblichen Fortbildungen u. Ä. entwickelte; konfessionelle Bildungsarbeit der Kirchen sowie im weiteren Verlauf Erwachsenenbildung im Kontext
sozialer Bewegungen.
Trotz zweier Weltkriege, Indienstnahme des gesamten Bildungssystems während der NS-Diktatur und vierzigjähriger Doppelstaatlichkeit mit unterschiedlichen politischen und ideologischen Ausrichtungen sind diese Wurzeln der E. und W. in Deutschland auch heute noch erkennbar. Sie zeigen sich in einer außerordentlichen Heterogenität des Bereichs. Zur E.- und W. als übergreifendem Begriff gehören u. a. die Bereiche berufliche und betriebliche W., → Fortbildung und → Umschulung, → politische Bildung, → gewerkschaftliche Bildungsarbeit, → konfessionelle Erwachsenenbildung, Grund- und Allgemeinbildung (darunter auch die → Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener) und → ästhetisch-kulturelle Bildung. E.- und W. umfasst Angebote, die von einer einzelnen Abendveranstaltung bis zu mehrjährigen Ausbildungsgängen reichen, Einrichtungen völlig unterschiedlicher Zielrichtungen, Rechtsformen und Arbeitsweisen sowie soziale und personale Zusammenhänge verschiedenster Provenienz. E.- und W. ist wesentlich enger als andere Bildungsbereiche (z. B. Schule und Hochschule) mit den gesellschaftlichen Strukturen verbunden. Sie findet faktisch in allen gesellschaftlichen Bereichen statt und begleitet, fördert und reflektiert den gesellschaftlichen Wandel (→ sozialer Wandel). Insofern ist die Vorstellung eines Bereichs E.- und W. irreführend.
Staatliche Initiativen seit 1970, E.- und W. zum vierten Bildungsbereich zu machen, trugen der gewachsenen Bedeutung des Bereichs und seiner Integration in gesellschaftliche Strukturen und Prozesse Rechnung. Sie legten einer öffentlichen Ordnung von E.- und W. die Prinzipien der Pluralität und Subsidiarität zugrunde. Pluralität (→ Pluralismus) bedeutet, dass in den konstituierten vierten Bildungsbereich die bestehenden Institutionen und Strukturen übernommen werden und Weiterbildung im Großen und Ganzen von gesellschaftlichen, nicht-staatlichen Organisationen verantwortet wird. Subsidiarität bedeutet, dass der Staat nur dort eingreift, wo E.- und W. mit Blick auf öffentlich definierte Ziele unterstützt und entwickelt werden muss (z. B. Flächendeckung, benachteiligte Zielgruppen, politische Bildung). Darüber hinaus ist auch das föderalistische Grundprinzip der deutschen Bildungs- und Kulturpolitik entscheidend. Alle drei Prinzipien – Pluralität, Subsidiarität, Föderalismus – gelten auch für die E.- und W. im zusammenwachsenden Europa.
Begriffe wie „Kooperation“ und „Koordination“, „flächendeckende Versorgung“, → Professionalität und → Qualität sind politische Gestaltungspostulate in diesem systemischen Kontext. Staatlicherseits wird versucht, E.- und W. über ordnungspolitische (Gesetze, Verordnungen) und förderpolitische Maßnahmen (Weiterbildungsstruktur, Grundsicherung für Arbeitssuchende, → staatliche Weiterbildungsförderung) zu strukturieren. E.- und W. wird in Deutschland somit durch eine Vielzahl ineinander verschränkter Regelungen geordnet, die teilweise unterschiedlichen Leitzielen dienen und nicht alle Bereiche erfassen. Weitgehend unberührt von öffentlichen Strukturimpulsen sind – auch wenn sie nicht selten an öffentlichen Förderprogrammen partizipieren – die kommerziell betriebene E.- und W. sowie die Weiterbildung in den Betrieben, die – wenn überhaupt – im Rahmen der Tarifautonomie zwischen Unternehmensleitungen und Gewerkschaften ausgehandelt wird. Darüber hinaus gibt es eigenständige gesetzliche Bestimmungen für einzelne Personengruppen (z. B. auf Bundesebene für Betriebsräte im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes, auf Landesebene für die Fortbildung für Beschäftigte im öffentlichen Dienst, insb. Lehrkräfte), für einzelne Institutionen (z. B. für die Hochschulen auf Bundesebene im Hochschulrahmengesetz) sowie für einzelne Fachressorts (z. B. auf Landesebene für Landwirtschaft sowie Handel und Industrie). Hinzu kommen Ländergesetze zur Freistellung von der Arbeit für Bildungszwecke (→ Bildungsurlaub), Regelungen und Empfehlungen der → Kultusministerkonferenz und der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (von Bund und Ländern), Regelungen im allgemeinen Tarifrecht und – länderspezifisch – zum Nachholen von Schulabschlüssen (→ zweiter Bildungsweg) (Krug & Nuissl, 2004ff.).
Rechtliche Grundlagen und Ordnungsgrundsätze sind im System der E.- und W. (→ Weiterbildungssystem) immer nur für Teilbereiche gültig. Sie sind jedoch unterschiedlich gewichtet, was die Ausstrahlung auf den Gesamtbereich angeht. Grundsatz ist allerdings, dass E.- und W. in Deutschland nicht staatlich geordnet sein muss. Anders als etwa im Schulbereich unterliegt E.- und W. nicht einem staatlichen Anerkennungszwang.
In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist die E.- und W. nicht geregelt. Einige Bundesländer haben sie in ihre Landesverfassungen explizit aufgenommen, so z. B. Baden-Württemberg und Bremen. Für das gesamte Bundesgebiet gelten auch unterhalb der Verfassungsebene keine umfassenden gesetzlichen Regelungen zur E.- und W. Hauptgrund dafür ist die föderale Zuständigkeit der Länder (→ Weiterbildungspolitik). Die wichtigsten gesetzlichen Regelungen sind die Weiterbildungsgesetze der Länder (→ Recht der Weiterbildung) (Nuissl, 2022). Sie gehen vom Prinzip der Pluralität aus, sind aber in der Interpretation des Subsidiaritätsgrundsatzes unterschiedlich. Insb. die auf Fortbildung, Professionalität und Qualität gerichteten ordnungspolitischen Vorgaben der Ländergesetze zur W. strahlten in das System der E.- und W. spätestens seit Beginn der 1970er Jahre bestimmend aus.
Die institutionelle Struktur der E.- und W. ist nach wie vor heterogen, unübersichtlich und differenziert. Es gibt kein einheitliches Raster, um die → Institutionen der Weiterbildung darzustellen. Ansätze, die E.- und W. nach Trägern, nach Inhaltsbereichen, nach Adressaten oder nach Finanzierungsregelungen kategorisieren, stehen nebeneinander. Nach dem obersten Grundsatz der Pluralität haben die ideologischen Wurzeln, organisatorischen Bindungen und institutionellen Voraussetzungen der Einrichtungen und Träger nach wie vor eine große Bedeutung (Schrader, 2019).
Entsprechend der Vielfalt institutioneller, organisatorischer und rechtlicher Grundlagen der E.- und W. sind auch die finanziellen Strukturen sehr unterschiedlich (→ Finanzierung der Weiterbildung). Erst seit den 1990er Jahren sind organisatorische und finanzielle Aspekte überhaupt verstärkt in den Blick geraten. Auch sind die Beträge, die für E.- und W. aufgewendet werden, gemessen an anderen Bildungsbereichen insgesamt nach wie vor gering. Von der öffentlichen Finanzierung her ist E.- und W. der am schlechtesten ausgestattete Bildungsbereich. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die öffentlichen Mittel in einem großen Umfang ergänzt werden: durch Förderungen und Zuschüsse von gemeinnützigen Stiftungen und gesellschaftlichen Organisationen, zu denen Bildungseinrichtungen zählen, durch finanzielle Aufwendungen der Betriebe, durch gezielte Förderungen der → Bundesagentur für Arbeit (→ Weiterbildungsförderung durch die Bundesagentur für Arbeit) und schließlich durch erhebliche Aufwendungen der → Teilnehmenden selbst. Hinzu kommen Projektfinanzierungen über verstreute öffentliche Etats, also bspw. personengruppenspezifische Finanzen in einem anderen Ressort als in dem der Bildung. Auch in den Institutionen, die überwiegend als öffentlich gefördert eingeschätzt werden und in ihrem Selbstverständnis → öffentliche Verantwortung tragen, existiert längst eine Mischfinanzierung. Beispiel dafür sind die → Volkshochschulen, bei denen der Anteil privater Mittel (Teilnehmerentgelte, Sponsoren und Auftraggeber, Projekte) gegenüber öffentlichen Mitteln (Kommunen, Länder) seit den 1980er Jahren deutlich gewachsen ist.
In der mittlerweile in vielen Ländern gültigen Trias der → formalen, non-formalen und informellen Bildung wird E.- und W. in Deutschland zumeist dem non-formalen Lernen zugerechnet. Dies gilt allerdings nur für das organisierte Angebot; Lernaktivitäten von Erwachsenen außerhalb desselben sind dem informellen Lernen zugeordnet. In der Europäischen Weiterbildungsstatistik Adult Education Survey (BMBF, 2021) sind beide Lernformen erfasst – mit einem unübersehbaren Fokus auf der beruflichen E.- und W. In internationalen Vergleichen zeigt sich, dass die E.- und W. in Deutschland überdurchschnittlich entwickelt ist, was institutionelle Strukturen, Teilnahmequoten und Angebotsvielfalt betrifft.
Literatur
Arnold, R., Nuissl, E. & Rohs, M. (2021). Erwachsenenbildung. Eine Einführung in Grundlagen, Probleme und Perspektiven (2., unveränd. Aufl.). Baltmannsweiler: Schneider.
Bundesministerium für Bildung und Forschung. (Hrsg.). (2021). Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2020. Ergebnisse des Adult Education Survey – AES-Trendbericht. Berlin: BMBF.
Nuissl, E. (2022). Weiterbildungsrecht. Hessische Blätter für Volksbildung, 72(1), 18–31.
Krug, P. & Nuissl, E. (Hrsg.). (2004ff.). Praxishandbuch WeiterbildungsRecht. Fachwissen und Rechtsquellen für das Management von Bildungseinrichtungen (Loseblattwerk). Neuwied: Luchterhand.
Schrader, J. (2019). Institutionelle Rahmenbedingungen, Anbieter, Angebote und Lehr-Lernprozesse der Erwachsenen- und Weiterbildung. In O. Köller, M. Hasselhorn, F. W. Hesse, K. Maaz, J. Schrader, H. Solga et al. (Hrsg.), Das Bildungswesen in Deutschland. Bestand und Potenziale (S. 701–756). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
Widany, S., Reichart, E., Christ, J. & Echarti, N. (Hrsg.). (2022). Trends der Weiterbildung. DIE-Trendanalyse 2021 (Reihe DIE Survey. Daten und Berichte zur Weiterbildung, Bd. 10). Bielefeld: wbv Publikation.