Erwachsenenbildung als Wissenschaft

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-080

Die E. ist der Bereich der Erziehungswissenschaft, der sich mit der Erforschung der Bildung und des Lernens bzw. der Identitäts- (Identität) und Kompetenzentwicklung (Kompetenz) Erwachsener beschäftigt. Als etablierte Spezialdisziplin ist die E. allerdings noch vergleichsweise jung. Erst seit den 1970er Jahren wurden in der Bundesrepublik Deutschland Professuren der E. geschaffen, obgleich es auch schon früher eine theoretische und empirische Analyse der E. und ihrer Praxen gab (z. B. Wilhelm Flitner, Friedrich Borinski). Interessanterweise sind die Spezialisierung sowie die wissenschaftspolitische Ausdifferenzierung der E. (vereinzelt auch Andragogik genannt) in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern i. d. R. wesentlich geringer ausgeprägt; teilweise werden Fragestellungen der E. auch stärker unter sozialpädagogischem Fokus analysiert (z. B. in Spanien) bzw. im Zusammenhang mit den europäischen Debatten um das lebenslange Lernen (lifelong learning) und die Entwicklung und Zertifizierung von Kompetenzen (Kompetenzerfassung) von der Arbeitswissenschaft und der Psychologie erforscht.

Die E. befasst sich mit den Beschreibungen und Begründungen (Theorien), der Entwicklung (Geschichte der Erwachsenenbildung), dem Bedarf (Bildungsbedarfsanalyse – Bildungsbedarfserschließung), den Inhalten und Prozessen (Inhalte – Themen), den Lernformen (Didaktik – Methodik; Lehr-Lern-Forschung), den Lernsubjekten und ihren biografischen, sozial-psychologischen und soziokulturellen Vorprägungen (Biografie; Sozialisation) und ihren das Erwachsenenlernen jeweils prägenden Emotions- und Deutungsmustern (Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters; Erwachsenensozialisationsforschung), den Adressaten und Zielgruppen (Milieuforschung sowie Teilnehmer- bzw. Adressatenforschung), der rechtlich-institutionellen Verfasstheit (Organisationsforschung; Recht der Weiterbildung) sowie den weiterbildungspolitischen und internationalen Rahmenbedingungen und Entwicklungstendenzen (Weiterbildungspolitik). Deutlicher hervorgetreten sind in den letzten Jahren auch die Themenbereiche Kompetenzentwicklung, informelles Lernen, Marketing, Leitung und Management, Qualitätssicherung (Qualität), Lehren und Lernen mit digitalen Medien (digitales Lernen) sowie Fortbildung des pädagogischen Personals (zu Lernbegleitenden) (Weiterbildung der Weiterbildenden), womit auch die E. auf den Trend zu einer stärker markt-, konkurrenz- sowie kundenorientierten Positionierung von Weiterbildungsangeboten reagiert.

In dem Maße, in dem die E. ihren Gegenstand als „lebensweltbezogenen Erkenntnisprozess“ (Enno Schmitz) in den 1980er Jahren – seit den 1990er Jahren stärker als milieugeprägten Erkenntnisprozess, als „Identitätsarbeit“ (Jochen Kade) und als „Konstruktion von Wirklichkeit“ (Rolf Arnold & Horst Siebert) – zu konzeptualisieren begann, gelang es ihr auch, Grundlinien einer Theorie des Erwachsenenlernens zu entwickeln, die den engen Rahmen der überlieferten mechanistischen Lern- und Vermittlungstheorien sprengte und die Identitäts- und Kompetenzentwicklung Erwachsener als den Prozess eines durch die jeweiligen Deutungs- und Emotionsmuster geprägten sowie von ihren inneren Strukturbesonderheiten beeinflussten Erfahrungslernens (Erfahrungen – Erfahrungsorientierung) zu beschreiben vermochte. Mit der Entwicklung einer solchen Aneignungsper­spek­tive (Aneignung – Vermittlung) ist die E. in den 1980er und 1990er Jahren zu ihrem genuinen Kern vorgedrungen, den sie mit keiner anderen wissenschaftlichen Disziplin gemeinsam hat: Sie fragt nach der Aneignung von Wissen, Deutungen und Erfahrungen in Lernprozessen, in denen sich Erwachsene vor dem Hintergrund ihrer biografischen, kog­nitiv-emotionalen sowie lebensweltlichen Erfahrungen (Lebenswelt) um eine Transformation ihrer Kompetenzen, d. h. um ihre Möglichkeiten des Denkens, Fühlens und Handelns bemühen (transformative Erwachsenenbildung), wohlwissend, dass diese Prozesse durch professionelles Handeln (Professionalität) ermöglicht und gefördert, kaum aber beabsichtigte Wirkungen erzeugt und gewährleistet werden können.

Literatur

Arnold, R., Nuissl, E. & Rohs, M. (2017). Erwachsenenbildung. Eine Einführung in Grundlagen, Probleme und Perspektiven. Baltmannsweiler: Schneider.

Tietgens, H. (1981). Die Erwachsenenbildung. München: Juventa.

Tippelt, R. & Hippel, A. von (Hrsg.). (2018). Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., 2 Bde.). Wiesbaden: Springer VS.

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