Ewa Przybylska
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-083
Im Zusammenhang mit den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umgestaltungsprozessen infolge des Zusammenbruchs des Staatssozialismus in Mittelosteuropa im Jahr 1989 ist der Begriff Ü. bzw. „Transformationsgesellschaften“ in die politische Sprache eingegangen. Er erfasst die grundlegenden Entwicklungsprozesse dieser Staaten.
Der gesellschaftliche Umbau in Ü. folgt der Vorbildwirkung des Westens, d. h. im wirtschaftlichen Bereich der kapitalistischen Marktwirtschaft und im politischen Bereich dem Konzept der parlamentarischen Demokratie. Er erfolgt i. d. R. gewaltlos, in friedlichen Verhältnissen und mit hohem Tempo (Kornai, 2005, S. 9). Einen Sonderfall von Ü. stellten die ostdeutschen Bundesländer dar, in denen die gesellschaftlichen Regelungsprozesse, grundlegenden Strukturen, Gesetze und Institutionen nicht neu entwickelt und konzipiert, sondern seit 1990 infolge der deutsch-deutschen Vereinigung weitgehend aus der westdeutschen Bundesrepublik übernommen wurden.
Ü. werden teilweise zu den Entwicklungsländern gerechnet (→ Erwachsenenbildung in Entwicklungs- und Schwellenländern); im Einzelfall zählen sie aber auch zu den Mitgliedsstaaten der → Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) bzw. der Europäischen Union (EU). In den vergangenen drei Jahrzehnten galt der Begriff Ü. zunächst hauptsächlich für die Länder in Mittelosteuropa und die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die den Weg von der zentral in eine marktlich gelenkte Wirtschaftsform eingeschlagen hatten. Gegenwärtig wird er zunehmend auch im Zusammenhang mit den strukturellen Veränderungsprozessen verwendet, die sich in kapitalistischen Gesellschaften im Zuge der Globalisierung vollziehen. Die Begriffe Ü. und „Transformationsgesellschaften“ weisen nach wie vor auf die Rasanz des technologischen, kulturellen und → sozialen Wandels in der → Gesellschaft hin (Tippelt, 2018).
Die tiefgreifenden Transformationsprozesse in Mittelosteuropa sowohl in wirtschaftlicher als auch politischer Hinsicht wurden durch die EU gelenkt. Diese Prozesse waren für große Teile der Bevölkerung mit Problemen verbunden, und sie profitierten kaum von den Veränderungen. Hauptursache hierfür waren die unzureichende wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der Länder und die daraus folgende Insolvenz vieler Wirtschaftsbetriebe, aber auch veraltetes → Wissen, mangelnde Vertrautheit mit den neuen Arbeitsformen kapitalistischer Produktionsverhältnisse sowie unzureichend geschulte → Kompetenzen für marktwirtschaftliches Denken und Handeln.
Vor dem Hintergrund der sich in allen Lebensbereichen vollziehenden Veränderungen gewann die Erwachsenenbildung in den Ü. erheblich an Bedeutung. Sie umfasste in diesem Kontext hauptsächlich einkommens- und existenzschaffende Maßnahmen der → Berufsbildung, einschließlich IT-Kurse und der Vermittlung von → Fremdsprachen. In kleinerem Umfang verfolgte sie auch die Ziele der Demokratiebildung (→ politische Bildung), des zivilgesellschaftlichen Engagements (→ Ehrenamt), des Erwerbs neuer Alltagskompetenzen (→ Alltag) und der → Persönlichkeitsbildung. Die Regierungen in den Ü. zogen sich aus der → öffentlichen Verantwortung für ein flächendeckendes → Weiterbildungssystem zurück, da sie befürchteten, dass dies das freie Spiel der Marktkräfte beeinträchtigen würde. So blieben viele Menschen unversorgt und orientierungslos auf einem sich schnell entwickelnden, aber vollständig deregulierten → Weiterbildungsmarkt. Um rasche Profite zu erzielen, versuchten zahlreiche → Weiterbildungsanbieter Kundinnen und Kunden für überteuerte Kurse zu gewinnen, ohne über die notwendigen fachlichen und materiellen Voraussetzungen zu verfügen oder → Qualität zu garantieren.
Die durch das historisch-kulturelle Erbe unterschiedlich geprägten nationalen Systeme der Erwachsenenbildung beschritten unterschiedliche Pfade zur Bewältigung der gesellschaftlichen Transformation. Dennoch gab es vergleichbare Schwerpunkte in ihren Aktivitäten, v. a. Sensibilisierung der politischen Entscheidungsträger für die Erwachsenenbildung, Schaffung gesetzlicher Grundlagen für die Erwachsenenbildung (→ Recht der Weiterbildung), Stärkung lokaler und regionaler Strukturen der Erwachsenenbildung, Entwicklung flächendeckender und qualitativ hochwertiger Bildungsangebote, Betonung besonderer Themen (z. B. ländliche Weiterbildung), Zielgruppenarbeit (z. B. Frauen, sozial und wirtschaftlich benachteiligte Personen, Arbeitslose), Aus- und Weiterbildung des pädagogischen Personals (→ Weiterbildung der Weiterbildenden), Aufbau von fachlichen Netzwerken und grenzüberschreitenden Kooperationen (→ Netzwerke – Kooperationen). Ein Sonderfall waren auch hier die ostdeutschen Bundesländer, die unmittelbar nach der Herstellung der Einheit Deutschlands umfassende Ressourcen in die sog. Qualifizierungsoffensive Ost investieren konnten.
Die ehemaligen Ü. sind heute in großem Umfang mit denselben Fragestellungen im Bildungsbereich konfrontiert wie Westeuropa. So gewinnt die Erwachsenenbildung in ganz Europa (→ europäische Erwachsenenbildung) an Vergleichbarkeit, vorangetrieben durch die Herausforderungen und Gestaltungsbedingungen, die einerseits mit dem Paradigma des Lebenslangen Lernens (→ lifelong learning), andererseits mit den Transformationsprozessen in allen kapitalistischen Gesellschaften einhergehen. Auch wenn die Phase der Transformation in den Ländern der EU mittlerweile als vollzogen angesehen wird, werden gegenwärtige sozioökonomische und technisch-kulturelle Entwicklungstendenzen in den ehemaligen Ü. betrachtet, um bildungsbezogene Potenziale zu identifizieren, zu erschließen und für eine effektive Bewältigung von individuellen und gesellschaftlichen Problemen zu nutzen.
Bildungssystem und -angebote sind darauf zu prüfen, ob sie auf die Herausforderungen der Gegenwarts- und Zukunftsgesellschaften angemessen reagieren können. Hierzu zählt auch deren Eignung, eine Verständigung für kulturelle Heterogenität zu fördern (→ interkulturelle Erwachsenenbildung) sowie Individuen für ein Leben in einer modernen Demokratie, insb. zur gesellschaftlichen Mitgestaltung und zum Umgang mit Unsicherheiten, zu befähigen. Diese Aufgabe ist gerade in jenen Gesellschaften von besonderer Bedeutung, die eine Systemtransformation bewältigt haben und in denen einige Grundphänomene im Bereich der Normen, Werte, Einstellungen, Verhaltensweisen und Gewohnheiten auf eine posttotalitäre Mentalität hinweisen. Diese Phänomene wurden durch den einstigen Sozialisierungsprozess (→ Sozialisation) im sozialistischen System geprägt. Bei erwachsenen Menschen wurden sie somit vor langer Zeit (noch vor den 1990er Jahren) aufgebaut und sind folglich nur schwer modifizierbar. Sie können das Funktionieren einer jungen Demokratie beeinflussen und – durch ihre Übertragung auf nachfolgende → Generationen im Zuge der Primärsozialisation (im familiären Kontext und näheren sozialen Umfeld) – diese auch dauerhaft bedrohen.
→ Bildung im Allgemeinen und → Erwachsenen- und Weiterbildung im Speziellen helfen in Ü. dabei, neue Werte und neue Paradigmen zu vermitteln. So kann auch das habitualisierte posttotalitäre Bewusstsein Erwachsener durch dialogische Bildungsarbeit weiterentwickelt werden. (Weiter-)Bildungspolitiken und -systeme von Ü. werden jedoch Misserfolge, mangelnde Innovativität, Trägheit, verzögerte Reaktionen auf den kulturellen und sozialen Wandel sowie Ideologisierung der Bildung und suggestive Beeinflussung vorgeworfen, die zu konformistischem Verhalten führen und das Bewusstsein für Selbstverantwortung beeinträchtigen können. Statistische Erhebungen (Eurostat, 2022) zeigen, dass die → Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung in den ehemaligen Ü. deutlich geringer ausfällt als in Westeuropa. Auch in Bezug auf Toleranz gegenüber Vielfalt und Offenheit gegenüber fremden Kulturen (z. B. Flüchtlingspolitik) schneiden ehemalige Ü. schlechter ab als Länder mit einer längeren demokratischen Tradition. Denn eine Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen ist ein langfristiger, sich über Jahrzehnte erstreckender Prozess, der von vielen Faktoren abhängt, wie historischen Ereignissen, politischen Lösungen oder der Kultur einer Gemeinschaft.
Literatur
Eurostat. (2022). Adult Learning Statistics 2022. Luxemburg (LU): Eurostat.
Kornai, J. (2005). Transformation Mitteleuropas: Erfolg und Enttäuschung. Europäische Rundschau: Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte, 4, 3–32.
Schäffter, O. (2001). Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. Zur Grundlegung einer Theorie der Institutionalisierung (Reihe Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung, Bd. 25). Baltmannsweiler: Schneider.
Tippelt, R. (2018). Sozialer Wandel und Erwachsenenbildung seit den 1980er Jahren. In R. Tippelt &
A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 1, S. 89–106). Wiesbaden: Springer VS.