Werner Michl
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-076
Die moderne E. hat sich um 1980 von einer umstrittenen → Methode zu einem gängigen Konzept entwickelt, das aus dem Spektrum der Praxisfelder der Sozialen Arbeit nicht mehr wegzudenken ist. An Hochschulen gibt es zu diesem Thema vereinzelte Angebote, Möglichkeiten der Basisqualifizierung (z. B. Universität Augsburg, Hochschule Nürnberg), Masterstudiengänge (Universität Marburg), Sommer- und Winteruniversitäten, und es entstehen unzählige Diplom-, Bachelor- und Masterarbeiten zu diesem Thema. Lerntheorien wie der → Konstruktivismus und die Hirnforschung legitimieren den Ansatz des erlebnis- und handlungsorientierten Lernens (Heckmair in Michl & Seidel, 2021, S. 12–16).
Eine Definition von E. haben Heckmair und Michl (2018, S. 18) formuliert: „Das Konzept der Erlebnispädagogik will als Teildisziplin der Pädagogik junge Menschen durch exemplarische Lernprozesse und durch bewegtes Lernen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen – vornehmlich in der Natur – stellen, um sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und sie zu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten.“ E. findet somit i. d. R. unter freiem Himmel statt; sie beinhaltet eine hohe physische Handlungskomponente; häufig wird die Natur als Lernfeld verwendet; es wird auf direkte Handlungskonsequenzen gesetzt und mit Herausforderungen und subjektiven Grenzerfahrungen gearbeitet. Die verwendeten Methoden und Medien sind eine Mixtur aus klassischen Natursportarten, speziellen künstlichen Anlagen (z. B. hohe und niedere Seilgärten) sowie Spielen und Lernprojekten (→ Projektmethode). Die Lerngruppe ist ein wichtiger Katalysator im Prozess der Veränderung. Immer geht es um Reflexion und Transfer: Was wurde gelernt, und wie wirkt es sich auf den persönlichen und beruflichen Alltag aus?
Kurt Hahn gilt als der Begründer der E. Er sah die → Gesellschaft in einem Verfall und entwarf ein kurzes, einfaches Konzept der Erlebnistherapie (Hahn, 1998 [1962], S. 301ff.): Den „Verfall der körperlichen Tauglichkeit“ wollte er durch das „körperliche Training“ aufhalten. Der „Mangel an Initiative und Spontaneität“ sollte durch die „Expedition“ kompensiert werden. „Das Projekt“ sollte den „Mangel an Sorgsamkeit“ ausgleichen. Dem „Mangel an menschlicher Anteilnahme“ setzte er den „Dienst am Nächsten“ entgegen. 1941 gründete Hahn in Aberdovey (Wales) die erste Outward Bound-Schule. Diese Idee verbreitete sich in den Ländern des Commonwealth und dann auf allen Kontinenten. Den 1956 zusammen mit Prinz Philipp gegründeten Duke of Edinburgh Award gibt es inzwischen in über 100 Ländern. Nimmt man die schulpädagogischen Variationen wie Project Adventure (Boeger in Michl & Seidel, 2021, S. 251–253) und die United World Colleges (Michl in Michl & Seidel, 2021, S. 161–163) hinzu, dann ist Hahn der Begründer eines der größten internationalen pädagogischen → Netzwerke.
Drei große Tagungen an psychosomatischen Kliniken (1998, 2004: Fontane-Klinik; 2017: Klinik Wollmarshöhe) haben gezeigt, dass das Thema Erlebnistherapie auch in Deutschland hoffähig geworden ist (Mehl, 2017). Vision Quest bzw. Visionssuche (Koch-Weser & Lüpke, 2009) gilt als wichtige Entwicklung zwischen Therapie und Selbsterfahrung (→ Selbsterfahrung – Bewusstseinsbildung), die die → Lernenden ins Niemandsland zwischen Ratio und Religion entführt.
Verfolgt man die Entwicklungen der E., erkennt man neben der Vernetzung auch eine Ausdifferenzierung des Themas. Bei den internationalen Kongressen erleben und lernen an der Universität Augsburg wird seit mehr als 15 Jahren in zweijährigem Abstand der aktuelle Forschungsstand zusammengetragen und publiziert. E. ist zudem zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Viele Institutionen und Träger bemühen sich, erlebnispädagogische → Fortbildungen und Weiterbildungen anzupreisen. Auch hat die E. die praktische → Pädagogik mit neuen Themen versorgt bzw. zur Wiederentdeckung wichtiger Leitthemen beigetragen, z. B. Prinzipien des handlungsorientierten Lernens (→ handlungsorientierte Didaktik), Führung und Verantwortung, Spiele und Lernprojekte, Lernen mit allen Sinnen, durch Anschaulichkeit sowie mit und über den Körper, Reflexion und Transfer.
Literatur
Hahn, K. (1998 [1962]). Erläuterungen zur Erlebnispädagogik. In M. Knoll (Hrsg.), Kurt Hahn. Reform mit Augenmaß (S. 291–308). Stuttgart: Klett Cotta.
Heckmair, B. & Michl, W. (2018). Erleben und Lernen. Einführung in die Erlebnispädagogik (8. Aufl.). München: Ernst Reinhardt.
Koch-Weser, S. & Lüpke, G. von (2009). Vision Quest – Visionssuche. Klein Jasedow: Drachen.
Mehl, K. (Hrsg.). (2017). Erfahrungsorientierte Therapie. Berlin: Springer.
Michl, W. & Seidel, H. (Hrsg.). (2021). Handbuch Erlebnispädagogik (2. Aufl.). München: Ernst Reinhardt.