Diskurs

Sigrid Nolda

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-069

In der Literatur zur Erwachsenenbildung wird der Begriff D. neben seiner Alltagsbedeutung als öffentlich diskutiertes Thema oder schlicht als Diskussion vornehmlich in zwei Bedeutungen verwendet: (1) Zum einen wird auf den Diskursbegriff von Jürgen Habermas zurückgegriffen; hier geht es um die Begründung und Reflexion von Normen und deren Geltung im Medium eines herrschaftsfreien Dialogs. (2) Zum anderen ist eine Beeinflussung durch das französische, von Michel Foucault in verschiedenen seiner Schriften entwickelte Diskurskonzept nachweisbar; dieses hebt die Abhängigkeit der Individuen von Beschränkungen dessen, was und wie etwas gesagt werden kann, hervor. Diskurse sind demnach durch (primär) sprachliche Äußerungen aktualisierte kollektive Wissensordnungen, wobei Wissen keine objektive Beschreibung von Objekten darstellt, sondern diese erst produziert. Neben diesen beiden Diskurskonzepten wird der Terminus in der englischsprachigen (oder von dieser geprägten) linguistischen Literatur allgemeiner als schriftlichen Text und mündliche Rede umfassende language in use definiert.

Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns ist schon bald nach Erscheinen des Buchs in den 1980er Jahren von der deutschen Erwachsenenbildung rezipiert und als Hintergrund für das Ziel der diskursiven Verständigung (Verstehen – Verständigung) genutzt worden. Diese besteht aus dem Aufheben von Selbstverständlichkeiten und dem Aufstellen strittiger Geltungsansprüche, einem Prozess der Argumentation und dem Ziel des begründeten Einverständnisses. Als weitere Anwendung auf das Lernen Erwachsener kann Jack Mezirows Konzept des Transformative Learning (transformative Erwachsenenbildung) mit seiner Betonung der Bedeutung metakognitiver Argumentation im kritisch-dialektischen D. für die Lernenden und für die demokratische Gesellschaft gelten.

Während der Diskursbegriff von Habermas eher mit den ethischen Zielen von Erwachsenenbildung verbunden ist (Ethik) und damit eine utopische Dimension aufweist, ist der Diskursbegriff der französischen Schule gerade auch für empirische Studien geeignet, die die jeweilige Realität der die Erwachsenenbildung kennzeichnenden Diskurse bzw. die durch Diskurse hergestellte Realität der Erwachsenenbildung erfassen wollen. Die dabei verwendeten unterschiedlichen Methoden eint mehrheitlich eine Orientierung am interpretativen Paradigma. Diskursanalysen der Erwachsenenbildungswissenschaft untersuchen primär zeitgenössische und historische Texte, z. B. bildungspolitische Programmatiken, wissenschaftliche Aufsätze, didaktische Konzepte zu Lernen und Beratung. Dabei geht es um die strategische Bedeutung von Begriffen wie dem des „lebenslangen Lernens“ (Rothe, 2011) (lifelong learning) oder um die Formation der Disziplin Erwachsenenbildung (Rosenberg, 2015). Die Aufmerksamkeit richtet sich auf Begrifflichkeiten, Argumentationen, Metaphern sowie auf die Kontexte, die die Äußerungen hervorbringen und die Machteffekte, die von ihnen ausgehen. Dies betrifft auch den Einfluss von externen (massenmedialen, politischen, ökonomischen) Diskursen auf die Erwachsenenbildung. Neben schriftlichen und mündlichen Texten werden zunehmend Bilddokumente ähnlich methodisch anspruchsvoll
untersucht.

Speziell die Überlegungen Foucaults zur Gouvernementalität haben eine Reihe diskursanalytisch geprägter Untersuchungen hervorgebracht, die die kritische Einstellung zum Konzept der Selbstoptimierung und seinen Praktiken, die nicht zuletzt durch Angebote der Erwachsenenbildung vermittelt werden, empirisch fundieren oder didaktische Umsetzungen von vorgeblich emanzipatorischen Konzepten wie dem der Neuen Lernkulturen (Lernkultur) als komplexe Machtbeziehungen verstehbar machen (­Klingovsky, 2009).

Die Komplexität des schon bei Foucault immer wieder neu akzentuierten Diskurskonzepts scheint allerdings eine breite Rezeption in der Erwachsenenbildung verhindert zu haben. Dies verwundert insofern, als es an die Konzepte des Deutungsmusters oder des Habitus sowie an Ansätze wie die des Konstruktivismus anschließbar ist.

Literatur

Klingovsky, U. (2009). Schöne Neue Lernkultur. Transformationen der Macht in der Weiterbildung. Eine gouvernementalitätstheoretische Analyse. Bielefeld: transcript.

Rosenberg, H. (2015). Erwachsenenbildung als Diskurs. Eine wissenssoziologische Rekonstruktion. Bielefeld: transcript.

Rothe, D. (2011). Lebenslanges Lernen als Programm. Eine diskursive Formation in der Erwachsenenbildung. Bielefeld: transcript.

Digitales Lernen
Dropout