Deutungsmuster

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-065

Mit dem Begriff D. entwickelte die erwachsenenpädagogische Diskussion der 1980er Jahre eine Kategorie, die es ihr ermöglichte, die prinzipielle Interpretationsabhängigkeit und den Lebensweltbezug (Lebenswelt) des Erwachsenenlernens sowohl theoretisch als auch didaktisch angemessen zu konzeptualisieren. Dabei wurden Anliegen und Konzepte der erfahrungsorientierten Erwachsenenbildung aufgegriffen und präzisiert (Erfahrungen – Erfahrungsorientierung).

D. sind kognitive Perspektiven (Kognition), die durch alltägliches Handeln (Alltag) erworben, verändert und gefestigt werden und selbst wieder Handeln anleiten. Sie sind lebensgeschichtlich verankert und eng mit der eigenen Identität verwoben und insofern auch affektiv bzw. emotional besetzt (Arnold, 2019). Zudem spricht einiges dafür, dass ihr quasi-automatisches Aufscheinen in alltäglichen Lagen auf tief eingespurte ­synaptische Verschaltungen zurückgeführt werden kann (Roth, 2007), welche durch Einsicht allein nicht dauerhaft reflexiv verfügbar werden oder gar dauerhaft transformiert werden können. Durch ihre unmittelbar handlungsorientierende und identitätsstabilisierende Funktion bieten D. dem Einzelnen Sicherheit, Sinnhaftigkeit, Zugehörigkeit und Kontinuität in seinem Verhalten. Um Verunsicherungen zu vermeiden, ist das Individuum i. d. R. bestrebt, an vertrauten Deutungsmustern festzuhalten und die Umwelt so zu deuten, dass möglichst keine Widersprüchlichkeiten zu bisherigen Interpretationsroutinen aufbrechen. Die Nachhaltigkeit, auch „Persistenz“ im Sinne einer Veränderungsresistenz, ist bei solchen Deutungsmustern am größten, die bereits früh im Lebenslauf erworben wurden und grundlegend für die Basispersönlichkeit sind.

Erwachsene leben und lernen „im Modus der Auslegung“ (Hans Tietgens) und verweilen bevorzugt in einem interpretatorischen „Repeat-Modus“. D. h. ihre biografischen Erfahrungen (Biografie) und ihre lebensgeschichtlich entwickelten D. sind sowohl für die Inhaltlichkeit als auch für den Verlauf und die Ergebnisse ihres Lernens prägend. Diese prägende Wirkung der D. erwachsener Lernender kann sich in unterschiedlicher Weise erwachsenendidaktisch auswirken (Didaktik – Methodik). So kann man zum einen davon ausgehen, dass alles „signifikante“, also wirklich verändernde Lernen immer mit einer Transformation bisheriger D. verbunden ist (transformative Erwachsenenbildung), da sich Erwachsene i. d. R. dann auf Lernprozesse einlassen, wenn sie „mit ihrer Weisheit am Ende sind“ und nach Neuem bzw. weiterentwickelten Interpretations- und Erklärungsmöglichkeiten suchen. Erwachsenenbildung stellt sich so als ein Deutungslernen, d. h. als eine Differenzierungsarbeit an den Deutungsmustern der Teilnehmenden dar (Schüßler, 2006). Durch diese Abhängigkeit des Erwachsenenlernens von Deutungsmustern ist auch das Bild einer Vermittlung bzw. einer Vermittelbarkeit von Inhalten ins Wanken geraten (Aneignung – Vermittlung). Wenn erwachsene Lernende auch in ihren Lernprozessen ihre D. „ins Spiel bringen“, ist davon auszugehen, dass jede oder jeder Einzelne von ihnen an einem anderen „Lernprojekt“ arbeitet, Erwachsenenbildung es also nicht mit einem einheitlichen Lernprozess zu tun hat. Erwachsenenpädagoginnen und -pädagogen vermitteln deshalb oft nicht wichtigeres oder in jedem Fall angemesseneres Wissen; sie legen vielmehr Sichtweisen vor, arrangieren Lernsituationen und fragen nach, um die individuelle Aneignung im Sinne einer Transformation bisheriger D. anzuregen, auszulösen und zu begleiten. Dabei sollte es auch nicht in erster Linie um Aufklärung durch die Verbreitung differenzierteren (i. d. R. wissenschaftlichen) Wissens gehen. Es geht dem Deutungslernen, welches bisherige Deutungsmustergewohnheiten nachhaltig zu differenzieren vermag, also um die Ermöglichung von Selbstaufklärungsprozessen. Entscheidend ist, dass dieses Differenzierungslernen zu viablen, d. h. gangbaren bzw. anwendbaren sowie ethisch vertretbaren Erklärungen und Deutungsmustern bei den Teilnehmenden führt. In diesem Sinne ist Erwachsenenlernen stets auf eine Veränderung bzw. Weiterentwicklung biografisch eingespurter und „bewährter“ Muster des Denkens, Fühlens und Handelns bezogen. Erwachsene lernen letztlich bloß zu ihren eigenen inneren Bedingungen. Die Nachhaltigkeit dieses Lernens hängt wesentlich davon ab, wie vielfältig und offen die Lehr-Lern-Arrangements sowie die Begleitweisen gestaltet sind, um der unhintergehbaren Subjektivität der Aneignungsprozesse Erwachsener die Rahmung zu geben, die diese benötigt.

Während in den 1990er Jahren die Einbettung des Deutungslernens in die Konzeption einer konstruktivistischen Erwachsenenbildung (Konstruktivismus) im Vordergrund stand (Arnold & Siebert, 2006), rückten seit der Jahrhundertwende verstärkt die Einbeziehung von Emotionsmustern (Emotion – emotionale Kompetenz) und die Frage nach der Veränderbarkeit emotionaler Wirklichkeiten in den Vordergrund (Arnold, 2019). Diese führten schließlich zu Konzepten einer Systemischen Erwachsenenbildung, deren Ergiebigkeit für eine wirksame Transformation von Individuen, Organisationen und Gesellschaften erst in Ansätzen erforscht worden ist.

Literatur

Arnold, R. (2019). Seit wann haben Sie das? Grundlinien eines Emotionalen Konstruktivismus (3. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

Arnold, R. (1985). Deutungsmuster und pädagogisches Handeln in der Erwachsenenbildung. Aspekte einer Sozialpsychologie und einer erwachsenenpädagogischen Handlungstheorie. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Arnold, R. & Siebert, H. (2006). Konstruktivistische Erwachsenenbildung: Von der Deutung zur Konstruktion von Wirklichkeit (5., unveränd. Neuaufl.). Baltmannsweiler: Schneider.

Roth, G. (2007). Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern (4. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

Schüßler, I. (2006). Erwachsenenbildung im Modus der Deutung – eine explorative Studie zum Deutungslernen in der Erwachsenenbildung (2. Aufl.). Baltmannsweiler: Schneider.

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen
Didaktik – Methodik