Anschlusslernen

Ekkehard Nuissl

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-014

Der Begriff A. ist zunächst in Verbindung mit didaktischen Vorschlägen für die Weiterbildung betrieblicher Interessenvertreter eingeführt worden (Schmidt & Weinberg, 1978). Es wurde angenommen, dass die Lernenden über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, an die zum Erreichen des Lernziels (Lehr-Lern-Ziele) angeknüpft werden kann und muss. Dies hat sich in wissenschaftlichen Untersuchungen (Neurowissenschaften, Psychologie, Pädagogik) bestätigt: Erwachsene verfügen über neuronale Netze, die Wissen, Deutung (Deutungsmuster) und Emotionen erfahrungsgetränkt bündeln. Diese Kenntnisse und Fähigkeiten steuern Wahrnehmungen, Interessen und Lernbereitschaft. Aber auch ungewohnte Sichtweisen können assimiliert werden, sofern der Lernprozess dies ermöglicht. Neue Wissens- und Deutungsangebote in Lernprozessen werden von den Teilnehmenden stets einer Erfahrungsprüfung (Anamonie) unterzogen.

Mit fortdauernder Praxis und wissenschaftlicher Reflexion hat sich das Konzept des Anschlusslernens weiterentwickelt und ausdifferenziert. Der Gedanke, dass Lernen immer an Vorhandenes andockt, wird heute stark mit lebensweltlichen (Lebenswelt) und biografieorientierten Vorstellungen (Biografie) verbunden. Auch die Anschlüsse an Erfahrungen im betrieblich-beruflichen Bereich (Arbeit) gewannen immer mehr an Bedeutung. Dabei geht man im Wesentlichen von vier Elementen aus, an die Lernen anschließt bzw. anschließen kann:

  1. Vorwissen: Dies bezieht sich auf die erworbenen Kenntnisse, aber auch Fähigkeiten und Kompetenzen der lernenden Menschen. Dies ist nicht immer so einfach operationalisierbar (wie z. B. bei Einstufungstests im Sprachunterricht), gilt aber als wesentliche Grundlage einer teilnehmerorientierten Didaktik (Teilnehmerorientierung).
  2. Erfahrung: Hier knüpft das Lernen an Erfahrungen an, die über die kognitive Dimension des Wissens (Gedächtnis; Kogni­tion) hinausgehen. Narrative und lebensgeschichtliche Bezüge, Assoziationen und Verknüpfungen erleichtern nicht nur das Lernen, sondern beziehen es auch in die Entwicklung der Persönlichkeit ein (Persönlichkeitsbildung).
  3. Interessen: Hier knüpft das A. an den Interessen und meist auch Erwartungen der Lernenden in organisierten Lehr-Lern-Prozessen an (Lernmotivation – Lerninteresse). Beim A. werden die Interessen ermittelt, präzisiert und in didaktische Konzepte und Aktivitäten übersetzt (Didaktik – Methodik).
  4. Lebenswelt: Hier knüpft das A. an den lebensweltlichen Kontext Lebenswelt der Lernenden an, bezieht sich auf deren Problem- und Alltagssituationen (generative Themen) und transferiert sie in ein konzeptionell mit ihr verbundenes Angebot.

In der Verknüpfung des Anschlusslernens mit der jeweiligen Bildungsbiografie wird es zur Determinante gelingenden Lernens im individuellen Kontext. Lernwiderstände sind in diesem Zusammenhang Indizien für Bruchstellen bei der Suche nach Anschlüssen auf unterschiedlicher Ebene.

Im Konzept des Lebenslangen Lernens (lifelong learning), das solche biografieorientierten Bildungsprozesse nachzeichnet, spielt das A. sowohl (1) mesodidaktisch als auch (2) mikrodidaktisch eine wichtige Rolle (didaktische Handlungsebenen).

Zu (1). Mesodidaktisch geht es darum, dass Individuen passende Übergänge zwischen organisierten Bildungsangeboten suchen (Übergänge im Bildungssystem) und Module bereitstehen müssen, die jeweils einen Anschluss ermöglichen, z. B. in Integrationskursen, berufsbezogenen Sprachkursen und beim Nachholen von Berufsabschlüssen (Schmidt-Lauff, Felden & Pätzold, 2016). Für die Weiterbildungsanbieter bedeutet dies auch, dass differenziertere, kleinteilige und aus unterschiedlichen Richtungen leicht ansteuerbare Module zu schaffen sind. Mesodidaktisch ebenfalls bedeutsam ist die Verknüpfung von informellem und formalisiertem Lernen, der Anschluss eines organisierten Lernprozesses (Kurs, Seminar usw.) an ein selbstgesteuertes (und nicht fremd organisiertes) Lernen zuvor, parallel und danach. Hier sind immer wieder Anpassungen der Lehr-Lern-Angebote an die sich wandelnden Bedarfe und Bedürfnisse der Lernenden erforderlich (Bildungsbedarfsanalyse – Bildungsbedarfserschließung).

Zu (2). Mikrodidaktisch erfordert das A., im Lehr-Lern-Prozess die Anschlussstellen der Lernenden hinsichtlich Vorwissens, Erfahrung, Interessen und Lebenswelt aufzuspüren und flexibel sowie teilnehmerorientiert in der Lehre umzusetzen. Dabei spielen neue komplexe Arrangements, die i. d. R. Moderation, Instruktion und Rekonstruktion kombinieren, eine zentrale Rolle. Auch ist die Frage der Anerkennung von Lernleistungen (Anerkennung – Validierung) in diesem Kontext wichtig.

Literatur

Nuissl, E. (2006). Vom Lernen zum Lehren. Lern- und Lehrforschung für die Weiterbildung (Reihe DIE spezial, Bd. 2). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Schmidt-Lauff, S., Felden, H. von & Pätzold, H. (Hrsg.). (2016). Transitionen in der Erwachsenenbildung. Gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Übergänge. Opladen: Barbara Budrich.

Schmidt, R. & Weinberg, J. (1978). Weiterbildung als Lehrhandeln. Münster: Waxmann.

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