Andragogik

Katarina Popović

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-009

A. wird zumeist als die Wissenschaft vom Lernen und von der Bildung Erwachsener definiert. Der Begriff leitet sich aus dem altgriechischen ἀνήρ (Mann) und ἄγειν (führen, ziehen) ab, wird parallel oder gegensätzlich zu Pädagogik verstanden und ist eng verbunden mit der Erwachsenen- und Weiterbildung. Erstmals wurde der Begriff im Jahr 1833 von Alexander Kapp in seiner Schrift „Platon’s Erziehungslehre“ verwendet, in der er über „die Andragogik oder Bildung im männlichen Alter“ schrieb. Der Begriff wurde dann erst wieder in der Weimarer Republik in den 1920er Jahren von Robert von Erdberg, Eugen Rosenstock, Werner Picht und Wilhelm Flitner aufgegriffen, seitdem er neutral und beide Geschlechter umfassend verstanden wird.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Revitalisierung des Begriffs A. durch verschiedene Expertinnen und Experten, z. B. Franz Pöggeler (der 1974 das Buch „Einführung in die Andragogik“ in der Reihe Handbuch der Erwachsenenbildung veröffentlichte), Heinrich Hanselmann (Schweiz), Mihajlo Ogrizović (Jugoslawien) und Tonko T. ten Have (Niederlande). Doch v. a. verbreitete er sich durch die Aktivität von Dušan Savićević (Serbien, damals Jugoslawien) und Malcolm Knowles (USA), der den Begriff von Savićević übernahm und ihn insb. durch seinen Artikel „Andragogy, not Pedagogy“ (1968) in den USA populär machte. Dank Savićevićs Tätigkeit als Experte der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) machte der Begriff eine internationale Karriere.

Seit den 1970er Jahren wurde der Begriff in zahlreichen europäischen Ländern verwendet, v. a. in den Ländern Osteuropas. A. wurde als eine allumfassende Wissenschaft verstanden, die das Lernen und die Bildung Erwachsener in jeder Form und in allen Bereichen erforscht. Sie umfasste also z. B. auch die berufliche Weiterbildung, das Erwachsenenlernen in der Freizeit, die soziale, politische und ästhetisch-kulturelle Bildung Erwachsener, die Altersbildung sowie die Alphabetisierung und Grundbildung. Dieses Verständnis ist auch heute noch dominierend, vornehmlich in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, die in der Debatte der 1970er Jahre eine führende Rolle innehatten. In den USA war (und ist) das Verständnis von A. jedoch eher auf die Methodik der Erwachsenenbildung reduziert, also auf die Art und Weise, wie Erwachsenen lernen und gelehrt werden.

A. wurde auch zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin – es wurden Lehrstühle für A. gegründet und entsprechende Forschungsinfrastrukturen etabliert. Europäische und internationale Organisationen unterstützten diese Entwicklung erheblich.

Nach dem Zerfall der kommunistischen Regime Osteuropas kam es zur kritischen Auseinandersetzung mit den Konzepten und Praktiken der Vergangenheit. Die Eliminierung der ideologisch geladenen Begriffe erfasste auch das Konzept der A., jedoch ohne tiefer­gehende Reflexion und Begründung. Als Konsequenz nahmen ihre Popularität, breite Verwendung und politische Unterstützung deutlich ab.

Der zweite Grund dafür, dass das Konzept der A. immer weniger Aufmerksamkeit erfuhr, war die allgemeine Akzeptanz des Begriffs „lebenslanges Lernen“ (lifelong learning). Am Anfang – auch im Bereich der A. – als Philosophie und Grundidee der Erwachsenenbildung verstanden, ersetzte schließlich oftmals das Konzept des Lebenslangen Lernens sowohl die A. als auch die Erwachsenenbildung. Durch den neoliberalen Diskurs trennte sich die berufliche Bildung ( Berufsbildung) vom Lebenslangen Lernen und verlor dadurch an Bedeutung.

Insb. im Diskurs der Entscheidungsträgerinnen und -träger substituierte das Lebenslange Lernen viele Konzepte, die im Praxisfeld und in der wissenschaftlichen Disziplin bislang geläufig waren. Damit wurde auch die Professionalisierung der Erwachsenen- und Weiterbildung erschwert, weil sich ein Tätigkeitsbereich, der sich auf das Lernen und die Bildung aller Altersgruppen „von der Wiege bis zur Bahre“ bezieht, nicht in einer spezifischen Profession zusammenfassen lässt.

Heutzutage wird der Begriff A. nur noch selten im ursprünglichen Sinn verwendet, findet sich aber immer noch in allen Weltregionen, nur mit unterschiedlichen Fokussen. Als wissenschaftliche Disziplin wird A. beschrieben als (1) eine Teildisziplin der Pädagogik –
manchmal auch kontradiktorisch als „Erwachsenenpädagogik“ bezeichnet, (2) unabhängig von der Pädagogik, z. B. nach Reischmann (1996) im Sinne einer Wissenschaft von der lebenslangen und lebensbreiten Bildung Erwachsener, und (3) gleichwertig neben­einanderstehend mit der Pädagogik, also als Teildisziplin oder Subbereich der Erziehungs- und Bildungswissenschaften.

Literatur

Reischmann, J. (1996). Andragogik: Wissenschaft von der Bildung Erwachsener. In K. Derichs-Kunstmann, P. Faulstich & R. Tippelt (Hrsg.), Qualifizierung des Personals in der Erwachsenenbildung: Dokumentation der Jahrestagung 1995 der Kommission Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (Beiheft zum Report. Literatur- und Forschungsreport, S. 14–20). Frankfurt a. M.: DIE.

Savićević, D. (1999). Understanding andragogy in Europe and America: comparing and contrasting. In J. Reischmann, M. Bron & Z. Jelenc (Eds.), Comparative adult education 1998: the contribution of ISCAE to an emerging field of study (pp. 97–119). Ljubljana (SL): Slovenian Institute for Adult Education.

Merriam, S. B. (2001). Andragogy and self-directed learning: pillars of adult learning theory. In S. B. Merriam (Ed.), The new update on adult learning theory (New Directions for Adult and Continuing Education, no. 89, ed. by S. Imel, pp. 3–13). San Francisco (US): Jossey-Bass.

Anamonie
Aneignung – Vermittlung