Anamonie

Rolf Arnold & Ekkehard Nuissl

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-008

Der relativ neue Begriff A. bezeichnet die Erwartungshaltung von Lernenden, die sich auf die Passung ihrer lebensweltgeprägten (Lebenswelt) und milieutypischen Vorstruktur zu dem Gegenüber, d. h. zum Lehren, zu den Lehrenden sowie zu den an sie gerichteten Kompetenzanforderungen bezieht. A. verweist auf die anthropologische Grundkonstante jeglicher Suchbewegung, welche durch das Dickicht von persönlichen Routinen und Erwartungen sowie Erwartungserwartungen stets zu neuen Suchbewegungen durchzubrechen vermag (Anthropologie). A. als motivationale Kategorie bei erwachsenen Lernenden betrifft die komplexen Wechselwirkungen der zu interpretierenden Interaktion im Lehr-Lern-Prozess. Pädagogische Improvisation als Folge der Orientierung an den Interessen der Lernenden (Teilnehmerorientierung) basiert auf einem Verständnis von A., in dem sich Lebenserfahrungen (Erfahrungen – Erfahrungsorientierung) mit Lerninteressen sowie situativen Möglichkeiten der Lernraumnutzung zu einer substanziellen Transformation von Kompetenz, Identität und Bewusstsein verbinden können.

Der Begriff A. fokussiert zum einen die Tatsache, dass nicht notwendig gelernt wird, was gelehrt wird, und zum anderen, dass zwischen Inhalt und Thema eine Diskrepanz besteht, die in pädagogischen Interaktionsprozessen in vielfältigen Aneignungsbewegungen ihren Ausdruck findet (Aneignung – Vermittlung). So lassen sich z. B. am Thema „Betriebsarzt“ gänzlich unterschiedliche Inhalte erörtern, z. B. Fragen der Qualifikation und Versorgung der Beschäftigten einerseits und der betrieblichen Interessen und Steuerung andererseits. Lernende und Lehrende können über den jeweils anderen Inhalt sprechen, sich damit auch widersprechen, ohne dass dies über die thematische Klammer bewusst wird. A. bezeichnet in konstruktiver Perspektive eben diese synchrone Vielfalt und „Unverfügbarkeit“ (Rosa, 2019) der Aneignungsformen vor dem Hintergrund der hirnphysiologischen Funktionsmechanismen des Kognitiven (Kognition) und Emotionalen (Emotion – emotionale Kompetenz). Diese nicht auszuschließen, sondern bewusst einzuräumen oder auch zu provozieren und einer reflexiven Betrachtung zuzuführen, ist das Kernmotiv einer anamonistischen Bildungsarbeit mit Erwachsenen.

Als „anamonistisch“ ist deshalb eine Erwachsenendidaktik (Didaktik – Methodik) zu bezeichnen, welche sich nicht allein um das Anknüpfen, Klären und Ankommen bemüht, sondern ebenso um das Öffnen und Perturbieren vorschneller und/oder überlieferter und bisweilen erstarrter bzw. deplatzierter Deutungen (Deutungsmuster) und Orientierungen durch die anregende Einbeziehung von Unterschieden sowie die auch konfrontative Einbeziehung des Möglichen. A. ist ein innovativer Begriff, der seine Wirkkraft für eine erwachsenenpädagogische Arbeit v. a. im Kontext des selbstgesteuerten Lernens (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen) und der pädagogischen Reflexion darauf entfaltet. Er verweist nicht bloß auf die Plastizität der neuronalen Netze von Kognition und Emotion, sondern auch auf deren Tendenzen zur Rigidität und zur selbsterfüllenden Prophezeiung und Starrheit als Beobachtungs-, Beurteilungs- sowie Verhaltensmasche des Subjekts. Deshalb sind Begriff und Konzept der A. auch Ausdruck eines nüchternen Blicks auf die Möglichkeiten einer Transformation gewachsener Formen der Stellungnahme zu sich und der Welt (transformative Erwachsenenbildung). Beide folgen zwar den Wandlungsversprechen der Aufklärung, verweisen aber auch auf den Konservatismus des Mentalen und Emotionalen in Bildungs-, Kooperations- und Lernprozessen der Moderne.

A. profiliert sich erst allmählich als anthropologisch-transzendentale Kategorie erwachsenenpädagogischer Professionalität. Diese versteht sich als anamonistische Begleitung zur Vertiefung von Fragen beim Driften durch „Welten ohne Grund“ (Vogd, 2014), nicht als wirkungssicheres Arrangement inputorientierter oder lernzielorientierter Lehr-Lern-Prozesse. A. ist deshalb mehr als ein auf Lernen und Bildung bezogener Begriff. Er öffnet vielmehr den pädagogischen Blick in Hinsicht auf die Fragen nach der Entstehung und Ausformung des Bewusstseins (Selbsterfahrung – Bewusstseinsbildung) und nach den zukunftssichernden Grundlagen und Ausdrucksformen einer tragfähigen Gestaltung im Lebenslauf. Anamonistisch betrachtet erscheint gelingende Bildung Erwachsener so zu einer letztlich awareness-based transformation subjektiver und dadurch auch sozialer Wirklichkeiten (Matoba, 2021).

Literatur

Arnold, R. (2014). Finden Sie noch oder suchen Sie schon? – Grundlinien einer systemischen Haltung. In R. Arnold & T. Prescher (Hrsg.), Schulentwicklung systemisch gestalten. Wege zu einem lebendigen und nachhaltigen Lernen in Schule und Unterricht (S. 3–21). Köln: Carl Link.

Matoba, K. (2021). Global social witnessing: an educational tool for awareness-based systems change in the era of global humanitarian and planetary crisis. Journal of Awareness Based Systems Change, 1(1), 59–74.

Nuissl, E. (2016). Improvisation. Education Permanente, 3, 35–37.

Rosa, H. (2019). Unverfügbarkeit (2. Aufl.). Wien (AT): Residenz.

Tuckett, A. & Nash, I. (Hrsg.). (2014). Seriously useless learning: the collected TES writings of Alan Tuckett. Leicester (GB): National Institute of Adult Continuing Education.

Vogd, W. (2014). Welten ohne Grund. Buddhismus, Sinn und Konstruktion. Heidelberg: Carl-Auer.

American Association for Adult and Continuing Education
Andragogik