Monika Tröster
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-005
Der Bereich der A. und G. hat sich seit Ende der 1970er Jahre in Deutschland, wie in anderen Industrieländern auch, als fester Bestandteil der → Erwachsenen- und Weiterbildung etabliert und stellt einen Schwerpunkt im Kontext des lebenslangen Lernens (→ lifelong learning) dar.
Bei der A. wird zumeist auf das Lesen und Schreiben (und manchmal auch auf das Rechnen) fokussiert, also vorrangig auf den Erwerb der Schriftsprache (→ Mehrsprachigkeit; → Sprache – Fachsprache). Der Begriff G. ist offener und weiter gefasst und impliziert mehr als das Lesen und Schreiben. Er zielt auf komplexe Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für eine aktive Partizipation an der → Gesellschaft erforderlich sind: „Der Begriff der Grundbildung soll Kompetenzen in den Grunddimensionen kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe bezeichnen, darunter: Rechenfähigkeit (Numeracy), Grundfähigkeiten im IT-Bereich, Gesundheitsbildung, Finanzielle Grundbildung, Soziale Grundkompetenzen“ (BMBF/KMK, 2016, S. 3) (→ Literalität – Numeralität). Betont wird zudem die Bedeutung der Anwendungspraxis von Schriftsprache in Arbeitszusammenhängen (→ Arbeit) oder im gesellschaftlichen → Alltag. Die Bestimmung eines solch erweiterten Begriffs von G. unterliegt einer dynamischen Entwicklung im Spannungsfeld der unterschiedlichen beteiligten Akteure (z. B. öffentliche Bildungsverwaltung, Bildungspraxis, Arbeitgeber) und ihrer (Macht-)Interessen.
Dabei gilt es, die individuellen Bedarfe und Bedürfnisse der potenziellen → Lernenden nicht aus dem Blick zu verlieren. Das Konzept Literalität als soziale Praxis (Brian V. Street) fokussiert auf die Anforderungen, die sich den Individuen in ihrem Alltag und ihrer → Lebenswelt stellen und von ihnen bewältigt werden müssen. Es verweist somit auf die Anwendungskontexte, in denen Schriftsprache gebraucht wird und verdeutlicht auf diese Weise ihren Bedeutungshorizont. Relevante (Inhalts-)Bereiche sind Familie, Arbeitsplatz, Gesundheit, Politik, Umgang mit Geld und digitale Medien. Daraus lassen sich vielfältige und übergreifende Grundbildungsangebote sowie Anschlussmöglichkeiten zu beruflicher Nachqualifizierung, zum Nachholen von Schulabschlüssen (→ zweiter Bildungsweg) und zum Zweitspracherwerb (→ Deutsch als Zweitsprache) ableiten, die auch neue Anforderungen an das professionelle Handeln der Lehrenden und Planenden stellen.
Die Didaktik der A. und G. orientiert sich demgemäß an der Lebenswelt sowie den kritischen Lebensereignissen der Lernenden (→ generative Themen) und zielt auf Selbstermächtigung, wie es Paulo Freire gefordert hat. Im Feld der A. und G. stellen die Ansprache der Adressatinnen und Adressaten (→ Adressatenforschung) und die Gewinnung von → Teilnehmenden die Bildungspraxis vor besondere Herausforderungen. Es zeigt sich, dass im Sinne einer aufsuchenden Bildungsarbeit interdisziplinäre Kooperationen (→ Netzwerke – Kooperationen) unterstützend sind und die Etablierung neuer → Lernorte und Lernformate ermöglichen.
In den letzten Jahren hat dieser Bildungsbereich durch (inter-)nationale Aktivitäten eine verstärkte bildungspolitische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Die Ergebnisse der international vergleichenden Large-Scale-Studien (→ Large Scale Assessments) International Adult Literacy Survey (IALS), Programme for International Student Assessment (PISA) und Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC) sowie der beiden deutschen Level-One (LEO) Studien verweisen auf die Bedeutung der A. und G. für eine erfolgreiche Teilhabe an der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Denn die gesellschaftlichen und arbeitsplatzbezogenen Mindestanforderungen unterliegen dem wirtschaftlichen und technologischen Wandel und erfordern eine dynamische Anpassung der (schriftsprachlichen) → Kompetenzen.
Von 2003 bis 2012 riefen die Vereinten Nationen eine Weltalphabetisierungsdekade aus und setzten damit einen wichtigen Akzent. In diesem Kontext engagierte sich die deutsche Bundesregierung, konstituierte ein Bündnis und legte verschiedene Förderprogramme auf. Als sich in den Ergebnissen der LEO Studie (2011) und weiterer Forschungsvorhaben ein deutlicher Handlungsbedarf in diesem Feld abzeichnete, wurden die Maßnahmen und Förderprogramme fortgeführt und intensiviert. Bund und Länder schlossen sich mit Stakeholdern (Bildungspraxis und Sozialpartner) zu einer nationalen Strategie zusammen. Diese mündete schließlich in der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung (AlphaDekade) (2016 bis 2026).
Literatur
Bundesministerium für Bildung und Forschung & Kultusministerkonferenz. (2016). Grundsatzpapier zur Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung 2016–2026. Den funktionalen Analphabetismus in Deutschland verringern und das Grundbildungsniveau erhöhen. Bonn: BMBF & KMK.
Euringer, C. (2016). Das Grundbildungsverständnis der öffentlichen Bildungsverwaltung. Definitionen, Interessen und Machtverhältnisse (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 33). Bielefeld: wbv Publikation.
Grotlüschen, A. & Buddeberg, K. (Hrsg.). (2020). LEO 2018. Leben mit geringer Literalität. Bielefeld: wbv Publikation.
Tröster, M. & Schrader, J. (2016). Alphabetisierung, Grundbildung, Literalität: Begriffe, Konzepte, Perspektiven. In C. Löffler & J. Korfkamp (Hrsg.), Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener (S. 43–58). Münster: Waxmann.