Zweiter Bildungsweg

Sascha Koch

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-307

Der Begriff z. B. umfasst im gegenwärtigen Verständnis diejenigen Bildungsangebote, die Erwachsenen ermöglichen, nach dem Verlassen des allgemeinbildenden Schulsystems nachträglich einen nächsthöheren allgemeinbildenden Schulabschluss zu erwerben. Diese Angebote finden v. a. in Abendschulen und tagesschulischen Kollegs sowie als Vorbereitung einer sog. Externenprüfung im Rahmen schulabschlussbezogener Kurse in Volkshochschulen (vhs) statt.

(Vor-)Formen von Abendschulen und Kollegs entstanden ab 1927 in der Weimarer Republik, konnten sich aber nicht dauerhaft halten. In der Nachkriegszeit wurden in Westdeutschland ab 1946 Abendgymnasien und ab 1949 Kollegs gegründet, seit den 1960er Jahren auch vielfach Abendrealschulen. In der jungen BRD war der Universitätszugang nur über das Abitur und somit die sozialselektive Höhere Schule möglich. Der Begriff z. B. stand in den 1950er Jahren für den Versuch, jenseits der Höheren Schule einen alternativen Weg über die berufliche Bildung (Berufsbildung) in die Universität zu ermöglichen (Ausbildung, Berufsaufbauschule, Kolleg als Oberstufe). Stattdessen orientierten sich Abendschulen und Kollegs inhaltlich an der Allgemeinen Hochschulreife bzw. der allgemeinbildenden Schule. Mit der Etablierung von Abendreal- und -hauptschulen (sowie der Fachhochschulreife seit den 1980er Jahren) entwickelte sich der zweite B. vom alternativen Universitätszugang faktisch zum nachgelagerten allgemeinbildenden Parallelsystem des ersten Bildungswegs (Koch, 2018). Abendschulen und Kollegs konnten ihre institutionelle Eigenständigkeit bis heute größtenteils erhalten, obwohl sie als freiwilliges Angebot der Bundesländer permanent gefährdet sind.

Insb. seit den 1970er Jahren bieten zudem die vhs abschlussvorbereitende Kurse an (abschlussbezogene Weiterbildung). So entstand eine institutionelle Arbeitsteilung, da die vhs v. a. auf den Hauptschulabschluss vorbereiten (einjähriger Kurs), während die ressourcenstärkeren Abendschulen und Kollegs v. a. mehrjährige Bildungsgänge anbieten. In Abgrenzung zu diesen Formen des zweiten Bildungswegs wird der Zugang zur Universität ohne Abitur seit den 1980er Jahren als „dritter Bildungsweg“ bezeichnet.

Das berufliche Bildungssystem hat eine oft übersehene Funktion als zweiten B. Berufliche Schulen (z. B. Fachober- bzw. Berufsoberschule, berufliches Gymnasium) vergeben allgemeinbildende Schulabschlüsse und können seit der Einführung der Doppelqualifizierung in den 1970er Jahren berufsbezogene um allgemeinbildende Abschlüsse ergänzen. Aus Sicht individueller Bildungslaufbahnen (Biografie; Lebenslauf) ist dies die „zweite Chance“ eines nachträglichen Erwerbs allgemeinbildender Abschlüsse (Zertifikate – Abschlüsse). In systemischer Sicht übersteigt deren Quantität deutlich diejenige des eigentlichen zweiten Bildungswegs.

Der zweite B. trug im Schuljahr 2018/19 zum allgemeinbildenden Schulsystem quantitativ mit 16.098 Schulabschlüssen (2,0 %) bei: Die Allgemeine Hochschulreife an Abendschulen und Kollegs wurde 3.681 Mal (1,3 %) erreicht und 477 Mal (0,2 %) durch Externenprüfungen abgelegt. Die Fachhochschulreife wurde an Abendschulen und Kollegs 1.557 Mal (8,0 %) und durch Externenprüfungen 9 Mal (0,001 %) absolviert. Der Mittlere Abschluss an Abendschulen und Kollegs wurde 3.192 Mal (1,0 %) vergeben und 1.719 Mal (0,5 %) durch Externenprüfungen abgenommen. Der Hauptschulabschluss wurde 1.617 Mal (1,2 %) an Abendschulen und Kollegs und 3.846 Mal (2,9 %) durch Externenprüfungen erzielt (Statistisches Bundesamt, 2020, S. 578–589). Obwohl der zweite B. traditionell aus der Ermöglichung des Hochschulzugangs entstanden ist (Fach- und Allgemeine Hochschulreife), sind Anteile von Abschlüssen der Sekundarstufe I inzwischen ähnlich hoch (Koch, 2018, S. 250–258).

Die Motive für das Einschlagen eines zweiten Bildungswegs sind plural. Bei Abschlüssen der Sekundarstufe II dominiert das Anliegen, den Berufsbereich durch ein Hochschulstudium zu wechseln (Bellenberg et al., 2019, S. 113–125). Abschlüsse der Sekundarrstufe I haben demgegenüber die primäre Funktion, überhaupt Zugang zum (ersten) Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt zu erhalten und soziale Prekarität zu vermeiden.

Literatur

Bellenberg, G., Brahm, G. im, Demski, D., Koch, S. & Weegen, M. (2019). Bildungsverläufe an Abendgymnasien und Kollegs (Zweiter Bildungsweg). Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.

Statistisches Bundesamt. (2020). Allgemeinbildende Schulen – Fachserie 11 Reihe 1 – Schuljahr 2019/2020. Wiesbaden: Destatis.

Koch, S. (2018). Die Legitimität der Organisation. Eine Untersuchung von Legitimationsmythen des Zweiten Bildungswegs (Reihe Organisation und Pädagogik, Bd. 23). Wiesbaden: Springer VS.

Zielgruppenorientierung