Josef Schrader
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-226
Der Begriff P. wird in der Erwachsenenbildung zumeist verwandt, um die Vielfalt ihrer institutionellen Struktur, ihrer Einrichtungen, Träger und Verbände zu kennzeichnen. Die Wortbedeutung schließt an den lateinischen Ursprung von pluralis „aus mehreren bestehend“ an. Der Begriff stammt aus der politik- und demokratietheoretischen Diskussion, die bis in das 18. Jh. zurückreicht und nach dem Zerfall des absolutistischen Staats, nach → Aufklärung und Säkularisierung die Neuordnung des Verhältnisses von Staat, Individuen und gesellschaftlichen Gruppen thematisierte (→ Modernisierung). Für die Vereinigten Staaten kann man u. a. auf William James‘ Lehre von der Vielheit und John Deweys Demokratietheorie verweisen. In Deutschland gelang es erst nach den Erfahrungen mit dem Faschismus, die historisch tief verankerte Ablehnung eines westlichen Liberalismus zu überwinden und einen zugleich analytisch und normativ verstandenen politikwissenschaftlichen Pluralismusbegriff zu etablieren. Fraenkel (1991 [1964], S. 326 f.) beschrieb in seiner grundlegenden Arbeit über Deutschland und die westlichen Demokratien den Idealtyp des „autonom legitimierten, heterogen strukturierten, pluralistisch organisierten Rechtsstaats“. Poppers (2003 [1945]) Plädoyer für eine offene Gesellschaft wurde mit der Rückfrage konfrontiert, unter welchen Bedingungen diese in der Lage sind, sich gegen ihre Feinde zu wehren. Mit dem Laissez-faire-P., dem korporativen P. und dem sozialstaatlichen P. werden gewöhnlich drei Varianten unterschieden, die auch die bildungspolitischen Auseinandersetzungen um die → Institutionalisierung der Erwachsenenbildung begleiteten.
Der Pluralismusstreit in der deutschen Erwachsenenbildung, ausgetragen insb. zwischen Vertretern der Kirchen (Subsidiaritätsprinzip) und der → Volkshochschulen (vhs), drehte sich um die Verantwortung des Staats (→ öffentliche Verantwortung) für die Förderung von „freier“ und „gebundener“ Erwachsenenbildung (wobei je nach Zeit- und Standpunkt mal die öffentliche, mal die gruppengebundene Erwachsenenbildung als „frei“ galt). Er wurde insofern entschieden, als die Ländergesetze (→ Recht der Weiterbildung) die historisch gewachsenen Strukturen vornehmlich der allgemeinen und der politischen Erwachsenenbildung unter dem Leitbegriff eines korporativen P. (neu) ordneten und legitimierten (Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung, 1973). V. a. Weiterbildungseinrichtungen der Kommunen und der großen Korporationen (wie Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) wurden durch öffentliche Zuschüsse zu Personal- und Programmkosten gefördert. Anhänger eines sozialstaatlichen P., die u. a. im Strukturplan Weiterbildung für vhs als kommunale Weiterbildungszentren argumentierten, konnten sich nicht durchsetzen. In den 1980er und 1990er Jahren folgte die → Weiterbildungspolitik im Wesentlichen dem Modell eines Laissez-faire-P., das sich an Markt und Wettbewerb als Leitprinzipien orientierte. Mit der Qualitätsdebatte (→ Qualität) einerseits, dem europäischen Einigungsprozess andererseits verloren spätestens seit den 1990er Jahren (national fixierte) systembezogene Fragestellungen und darauf gerichtete bildungspolitische Konzepte an Bedeutung.
Grundlegende Prinzipien wie P. und Subsidiarität sind gleichwohl auch heute noch als konstitutive Elemente der → Erwachsenen- und Weiterbildung in Politik und Praxis anerkannt, nicht nur in Deutschland, sondern auch in einem sich konstituierenden europäischen Mehrebenensystem (→ europäische Erwachsenenbildung). Bildungspolitisch ist die Vorstellung eines „aktivierenden Staats“ leitend, der die Handlungen jener Akteure koordiniert, die die allgemeine Erwachsenenbildung, v. a. die → berufliche Weiterbildung repräsentieren. Dass der korporative P. an orientierender Kraft eingebüßt hat, hat vielfältige Gründe. Zunächst orientierte sich dieses Konzept an den Strukturen und Akteuren der „alten“ Bundesrepublik und zeigte sich nicht hinreichend offen für die Bedingungen der Migrationsgesellschaft (→ Migration). Empirisch trat zudem immer mehr ins Bewusstsein, dass die Bindung der Adressatinnen und Adressaten an gesellschaftliche Großorganisationen sinkt und die Erwachsenen- und Weiterbildung korporativ-pluraler Träger nur einen Teil der gesamten Lernaktivitäten Erwachsener abbildet. In der Wissenschaft verlor der Begriff des korporativen P. schließlich an Resonanz, weil sich aus ihm keine tragfähigen theoretischen Annahmen für Struktur und Entwicklung des → Weiterbildungssystems in seiner Gesamtheit ableiten ließen (Schrader, 2011). Welche bildungspolitischen und theoretischen Konzepte die skizzierten Lücken schließen können, ist offen.
Literatur
Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung. (Hrsg.). (1973). Bildungsgesamtplan (Bd. 1). Stuttgart: Klett.
Fraenkel, E. (1991 [1964]). Deutschland und die westlichen Demokratien (7., erw. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Popper, K. R. (2003 [1964]). Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (8. Aufl.). Tübingen: Mohr.
Schrader, J. (2011). Struktur und Wandel der Weiterbildung (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 17). Bielefeld: W. Bertelsmann.