Organisation

Ortfried Schäffter

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-212

Der institutionstheoretische Begriff O. ist zu unterscheiden von einem verdinglichenden Alltagsverständnis, nach welchem man annimmt, mit einer O. persönlichen Kontakt aufnehmen oder sie ggf. territorialräumlich betreten zu können. In einem sozialwissenschaftlichen Verständnis bekommt man es mit einem abstrakten, hochkomplex verschränkten Relationsgefüge im Sinne eines Schwellenbereichs zwischen politischem Handeln auf mikro- auf makrosozialer Ebene zu tun (Küpper & Ortmann, 1992). Sozialtheoretisch erscheint O. als das Ergebnis einer sozialen Strukturentwicklung, von deren funktionalen Rationalität die Gesellschaft der Spätmoderne bis tief in ihre kulturellen Einzelpraktiken hinein bestimmt wird. Ihre zivilisatorische Errungenschaft besteht im Aufbau rhizomartig vernetzter Handlungsketten und deren Ausrichtung auf temporal nur langfristig und ko-produktiv erreichbare Zwecke, Fernziele und praktische Ergebnisse. Daher spricht Niklas Luhmann auch von einer „Organisationsgesellschaft“.

Die gesellschaftliche Institutionalisierung von komplexen Handlungskonfigurationen hängt aufgrund dieser strukturbildenden Ausdifferenzierung nicht mehr allein von okkasionell vorhandenen Motiven und den Interessen von individuell handelnden Subjekten ab, sondern von sich überschneidenden Interessenlagen verschiedener Akteursgruppen hinsichtlich des Erwerbs oder Aufrechterhaltens einer Organisationsmitgliedschaft. Diese bildet die Grundlage eines formellen wie informellen Regelsystems, mit dem das Verhalten der Akteure erwartbar und damit steuerbar wird. Zugleich berührt die Mitgliedschaft die Gesamtpersönlichkeit der Beteiligten nur partiell in dem besonderen Ausschnitt der jeweiligen Mitgliedsrolle.

Die O. bildet somit ein Handlungssystem, das die sachlichen, sozialen wie auch zeitlichen Erfahrungsmöglichkeiten von Einzelpersonen und deren individuellen Lernkapazitäten deutlich überschreitet. In der Historizität ihrer Struktur stellen sie eine Art „kollektives Gedächtnis“ dar, in welchem zunächst subjektiv getrennte Erfahrungen und situative Lernergebnisse aufbewahrt, tradiert und schließlich zu Wissenskulturen verdichtet werden können. Daneben greift eine O. aktuell produziertes gesellschaftliches Wissen selektiv auf und lässt es situationsangemessen handlungswirksam werden.

Mittlerweile gibt es verschiedene Definitionen von O., die entweder das Instrumentelle, die Prozessstruktur des Organisierens oder die systemische Struktur als Kommunikationskontext bzw. als Organisationskultur betonen. In den organisationswissenschaftlichen Diskursen (Organisationsforschung) hat man folglich von einer Pluralität konkurrierender Positionen auszugehen, die sich unter keiner übergeordneten Theorie in Form sich ergänzender Teilperspektiven systematisch subsumieren lassen (Scherer, 2002). Aufgrund der polyzentrischen Struktur haben sich die epistemologischen Anforderungen an eine sozialwissenschaftliche Organisationstheorie auf die übergeordnete Frage verlagert, wie mit dem Widerstreit inkommensurabler Beschreibungen der jeweiligen Organisationswirklichkeit umzugehen ist, ohne sich dabei einseitig zum Exponenten von nur einer der konkurrierenden Positionen zu machen. Aufgrund dieses Pluralismus lässt sich ein gewisser Eklektizismus theoretischer Ansätze beobachten. Die jeweilige Präferenz für einen Organisationsbegriff steht in engem Zusammenhang mit dem je aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungsstand und seinem semantischen Vokabular. So lässt sich aus historisch-epistemologischer Sicht ein deutlicher Wandel von soziotechnischen Organisationskonzepten über symbolisch-interaktionistische hin zu kulturalistischen Deutungen nachweisen. Im Zusammenhang mit Theorien des Neo-Institutionalismus erhält die O. einen wichtigen intermediären Stellenwert zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen und lebensweltlichen Strukturierungen (Lebenswelt) (Schäffter, 2001).

In kulturtheoretischer Deutung lässt sich auch die pädagogische O. im Rahmen von funktional gefassten Institutionalformen lebenslangen Lernens (lifelong learning) strukturanalytisch bestimmen (Schäffter & Schicke, 2012). Eine pädagogische O. spiegelt nicht nur die Symptomatik gesellschaftlicher Transformationsprozesse (sozialer Wandel) wider, sondern ist auch ein wichtiges Strukturelement der modernen Gesellschaft. Nach Coleman (1995) haben sich in der westlichen Organisationsgesellschaft unterschiedliche Interaktionsstrukturen herausgebildet: neben dem Typ 1 der interpersonalen Interaktion von Person zu Person ein Typ 2 von Person zu O. sowie ein Typ 3 von O. zu O. Aufgrund einer elementaren Asymmetrie lässt sich dabei ein Machtgefälle zugunsten der Organisationsebene beobachten. Dies hat zunächst Konsequenzen für alle Interaktionen, bei denen es weniger um formale Leistungsbeziehungen zwischen kollektiven Akteuren als vielmehr um ein qualitativ gedeutetes Interesse am Gegenüber als Person geht. Allerdings lässt sich hierdurch eine O. im Typ 3 über das bisherige individualpsychologische Vokabular hinaus im Sinne eines institutionellen Akteurs als ein kollektiver Adressat von Weiterbildung konzipieren.

Institutionalisiertes Lernen wird zunehmend als ein intermediäres Verhältnis zwischen Person und O. bzw. vice versa verstanden und weist hierbei ein komplexes Mischungsverhältnis zwischen den genannten drei Interaktionstypen auf. Hier liegen die strukturellen Anlässe für eine Erweiterung des Lernbegriffs durch die Konzepte des Lernens in der O. (Interaktionstyp 2) und des organisationalen Lernens (Interaktionstyp 3): In einer O. kommt es im Zuge produktiver Umweltaneignung „zu einer Erhöhung der Wissensbasis, die vom Individuum unabhängig ist [...]. Durch die Speicherung von Wissen in Organisationen in sog. Wissenssystemen werden Handlungsmuster festgehalten. Damit wird individuelles Verhalten und Handeln unabhängig von ihrer bewussten Verfügbarkeit zu einem überdauernden, replizierbaren Wissen der Organisation. [...] Das Lernen eines sozialen Systems ist also nicht mit der Summe der individuellen Lernprozesse und Ergebnisse gleichzusetzen, auch wenn diese Voraussetzung und wichtige Basis für institutionelles Lernen sind“ (Probst & Büchel, 1994).

Für das Verständnis von Weiterbildung im Allgemeinen und für didaktische Konzeptionen (Didaktik – Methodik) des Erwachsenenlernens im Besonderen hat die Differenz zwischen der individuellen und der kollektiv-systemischen Dimension des Lernens hohe Relevanz. Es geht um die Frage, welche Funktion institutionalisiertes Lernen im Kontext von Prozessen eines organisationalen Strukturwandels erhält bzw. übernehmen kann. Weiterbildungskonzepte, die sich an kollektive Adressaten wie Familien, soziale Gruppen oder Wirtschaftsunternehmen richten, werden mit dem genannten Problem des strukturellen Machtgefälles konfrontiert. Grundsätzlich bekommt es Weiterbildung von zwei Seiten her mit einer wachsenden Bedeutung des Organisatorischen zu tun: zum einen aus ihrem eigenen Strukturwandel heraus, wo zunehmender Veränderungsdruck in Verbindung mit Ressourcenknappheit eine intensive organisationale Anpassung und Optimierungsleistungen erzwingt; zum anderen von den Lernkontexten ihrer Bildungsadressaten, in denen praxisbezogene Qualifizierung und bewusste Lebensführung immer stärker als Bestandteil von systemischem Strukturwandel und somit z. B. als Personalentwicklung und Organisationsentwicklung verstanden werden.

In beiden Perspektiven erhalten organisationspädagogische Kategorien, wie „organisiertes Lernen“, „Lernen in der O.“ und „organisationales Lernen“, eine hohe theoretische wie bildungspraktische Relevanz, ohne dass sich die hier abzeichnende organisationale Wende der Erwachsenenbildung bereits in ihren Konsequenzen einschätzen ließe. Besonders gilt dies für den Fall, wo interne Veränderungsprozesse der Weiterbildung von struktureller Transformation in Verwendungsbereichen der Bildungsadressaten angestoßen und konzeptionell beeinflusst werden. Es wächst der Bedarf an einer pädagogischen Organisationstheorie, weil hier ein differenzieller Bezugsrahmen für segmentierte erwachsenenpädagogische Fachdiskurse zu erwarten ist. Disziplinär kommt dies u. a. darin zum Ausdruck, dass sich in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) eine Sektion Organisationspädagogik konstituiert hat (Göhlich et al., 2014).

Das gegenwärtige Fachinteresse in der Weiterbildungspraxis konzentriert sich indes noch weitgehend auf die Bewältigung von struktureller Transformation innerhalb der Weiterbildung und bemüht sich um eine Klärung der organisationalen Dimension erwachsenenpädagogischen Handelns. Dieses Interesse ist durch vier Entwicklungen motiviert:

  1. Das Überschreiten der bisher gewohnten Betriebsgröße von Weiterbildungseinrichtungen erfordert neuartige Verfahrensabläufe und Umgangsformen in ausdifferenzierten und damit auch stärker formalisierten Großbetrieben.
  2. Veränderungen in der Rechtsform, wie die Entscheidung für eine GmbH, ein Profitcenter, eine Stiftung oder einen kommunalen Eigenbetrieb, sind Ausdruck eines neuen Verständnisses von Weiterbildung, haben gleichzeitig aber auch Signalcharakter mit einer Vielzahl beabsichtigter wie unvorhersehbarer Folgewirkungen.
  3. Die Binnendifferenzierung in Aufgabenbereiche einschließlich einer wachsenden Komplexität von Mitarbeitergruppen und Beschäftigungsverhältnissen (Personal) lässt auch ohne erhebliche quantitative oder formalrechtliche Veränderungen die heroische Pionierphase einer „elementaren Ordnung“ (Klaus Senzky) zu Ende gehen, in der noch alle wesentlichen Entscheidungen gemeinsam getroffen werden konnten.
  4. Schließlich lässt sich nicht übersehen, dass auch die Teilnehmenden in Bezug auf ihr Nachfrageverhalten, ihre Ansprüche an Kundenfreundlichkeit oder ihr Interesse an neuen (z. B. erlebnis- und erfahrungsbezogenen) Lernformen nicht mehr dieselben sind.

Oft genug kommen mehrere der beschriebenen Aspekte zusammen und werden in Verbindung mit dem Zwang zur Ressourcenkontrolle (Wirtschaftlichkeit) als wachsender Außendruck einer volatilen Umwelt erlebt. Organisationsentwicklung erhält hierdurch eine drastische Zuspitzung: Gegenwärtig kann keine gesellschaftliche Institution mehr davon ausgehen, dass ihr Bestand von vornherein garantiert ist. Damit geraten auch die Einrichtungen und Institutionen der Weiterbildung in die Turbulenz komplexer Strukturveränderungen. Dies wiederum lässt ihre jeweilige organisatorische Verfasstheit in einem neuen Licht erscheinen. Gerade an der Organisationsfrage und an ihrer institutionellen Vernetzung – und nicht mehr an ihrer betriebsförmig an einzelnen Zielen und Inhalten der jeweiligen Angebotspalette – werden zukünftig Bestandserhalt und Zukunftsfähigkeit des Weiterbildungssystems einer „Transformationsgesellschaft“ (Schäffter, 2001) entschieden.

Als Bestandteil von Mikropolitik erhält die Suche nach einem erwachsenenpädagogischen Organisationsverständnis eine strategische Bedeutung für den institutionellen Bestandserhalt. Mit der O. wird gegenwärtig ein neues Politikfeld zwischen individualisierten Lebenslagen und anonymen Makrostrukturen erschlossen. Entscheidungen über geeignete Organisationsstrukturen, über pädagogisches Handeln in regionalen Netzwerken und über die Entwicklung lernförderlicher Organisationskulturen müssen daher als Ausdruck einer sich immer deutlicher akzentuierenden Organisationspolitik verstanden werden. In diesem Politikfeld erhalten Bemühungen um Organisationsentwicklung im Sinne einer „organisationsgebundenen pädagogischen Professionalität“ (Schicke, 2012) eine umfassende Bedeutung. Eingebettet sind die aktuellen, nur vordergründig fiskalisch motivierten Veränderungsbemühungen in einen weit grundsätzlicheren, ordnungspolitisch beeinflussten Transformationsprozess – den Strukturwandel einer öffentlich verantworteten Infrastruktur für lebensbegleitendes Lernen und ihrer politischen Steuerungsinstrumente (öffentliche Verantwortung).

Literatur

Coleman, J. S. (1995). Grundlagen der Sozialtheorie (Bd. 2: Körperschaften und die moderne Gesellschaft, a. d. Amerik. übers. v. M. Sukale u. Mitw. v. M. Wiese). München: Oldenbourg.

Göhlich, M., Weber, S. M., Schröer, A. et al. (2014). Forschungsmemorandum Organisationspädagogik. Berlin: DGfE.

Küpper, W. & Ortmann, G. (1992). Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen (2., durchges. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Probst, G. & Büchel, B. (1994). Organisationales Lernen (2., akt. Aufl.). Wiesbaden: Gabler.

Schäffter, O. & Schicke, H. (2012). Organisationstheorie. In B. Schäffer & O. Dörner (Hrsg.), Handbuch qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungsbildungsforschung (S. 166–181). Opladen: Barbara Budrich.

Schäffter, O. (2001). Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. Zur Grundlegung einer Theorie der Institutionalisierung. Baltmannsweiler: Schneider.

Schicke, H. (2012). Organisation im Kontext der Professionalität: Beruflichkeit pädagogischer Arbeit in der Transformationsgesellschaft (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 21). Bielefeld: wbv Publikation.

Scherer, A. G. (2002). Kritik der Organisation oder Organisation der Kritik? In A. Kieser (Hrsg.), Organisationstheorien (5. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

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