Helmut Bremer
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-129
Der Begriff H. bezeichnet allgemein die mentale und körperliche Grundhaltung eines Menschen gegenüber der Welt, die zugleich als Erzeugungsprinzip sozialer Praxis fungiert. In diesem allgemeinen Verständnis wurde H. (häufig synonym mit „Hexis“ und „Ethos“) schon in der frühen Philosophie verwendet, um der Dimension des theoretischen, rationalen und bewussten → Wissens eine Ebene der → Erfahrung, des (körperlichen) Handelns und eines damit verbundenen „praktischen Wissens“ gegenüberzustellen. In den Sozialwissenschaften ist der Begriff H. bspw. von Emile Durkheim, Max Weber, Alfred Schütz, Marcel Mauss, Karl Mannheim, Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Norbert Elias und anderen aufgegriffen worden, um Prozesse der Einübung und Ausbildung von Routinen und gewohnheitsmäßigen Handlungen und Praktiken in den Blick zu nehmen.
Für das heutige Verständnis von H. sind v. a. die Arbeiten von Pierre Bourdieu relevant, der den Begriff systematisch ausgearbeitet und den H. als tragendes Element seines Konzepts (1987) ausgewiesen hat. Bourdieu spricht im Zusammenhang mit H. bspw. von „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“, einem „System von Dispositionen“, einer „strukturierenden und strukturierten Struktur“, einem „Erzeugungsprinzip“ und einem „Modus Operandi“. Kern seiner Argumentation ist, dass Individuen bei ihrer Weltdeutung (→ Deutungsmuster) und der Konstruktion ihrer Lebenspraxis (→ Konstruktivismus) auf Prinzipien zurückgreifen, die nicht von ihnen generiert werden, sondern die gesellschaftlich hervorgebracht sind und in sozialen Kontexten unbewusst erworben werden. Diese handlungsleitenden Schemata werden „inkorporiert“ und liegen nicht nur in mentaler Form vor, sondern sind auch im Verhalten „verkörperlicht“. Das Hervorbringen von Praxis auf der Grundlage des H. ist dann zwar ein aktiver individueller Prozess, wird aber nicht vollständig reflexiv durchdacht und bewusst gesteuert. Das Individuelle verweist somit auf Kollektives.
Für die Erwachsenenbildung ist das Konzept des H. durch die darin angelegte Verbindung von Individuum und → Gesellschaft und somit aufgrund der sozialisationstheoretischen Perspektive von Bedeutung. → Sozialisation wird hierbei als biografische Ausbildung des H. (→ Biografie) oder als „Habitualisierung“ (Wittpoth, 1994) verstanden. Bildungstheoretisch geht es um die Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen im → Lebenslauf. Das H.-Konzept leistet einen spezifischen Beitrag dazu, wie Erwachsenenbildung durch → Anschlusslernen einerseits biografische Kontinuität und → Identität herstellen und andererseits Spielräume für Umorientierungen eröffnen kann. Daraus ergeben sich bildungs- und lerntheoretische Bezüge, die auf Fragen der Veränderbarkeit zwischen Beharrung und Transformation (→ transformative Erwachsenenbildung), der → Aneignung und der Körperlichkeit und Sinnlichkeit von Lern- und Bildungsprozessen fokussieren.
In der Teilnehmer- und → Adressatenforschung wird die Nichtteilnahme bzw. → Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung auf im H. verinnerlichte Dispositionen, Ressourcen und „Passungen“ zu Angeboten und Strukturen bis hin zu pädagogischen Handlungsformen zurückgeführt (Bremer & Pape, 2019). In den Blick geraten einerseits Selektionsprozesse und → Regulative der Weiterbildungsbeteiligung, andererseits auch der erwachsenenpädagogische Umgang mit Heterogenität im Sinne unterschiedlicher Formen des H. Besonders anschlussfähig erweist sich die → Milieuforschung, da soziale Milieus auf bestimmte Habitustypen zurückgeführt werden können und umgekehrt, und die Erwachsenenbildung bei der Konstitution dieses wechselseitigen Verhältnisses beteiligt sein kann. Auch in Arbeiten zum Thema Gender (→ Gender in der Erwachsenenbildung) finden sich Bezugnahmen auf den H. als geschlechtsspezifische Ausformung von Routinen und Dispositionen.
Schon Ende der 1980er Jahre wurde das H.-Konzept durch Gieseke (1989) in der erwachsenenpädagogischen Professionsforschung (→ Profession) aufgegriffen. Jüngst wurde dabei der pädagogische H. mit Ulrich Oevermanns professionstheoretischem Konzept in Verbindung gebracht. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern milieu-, geschlechts- und biografiespezifische Erfahrungen das (erwachsenen-)pädagogische Handeln implizit mitstrukturieren und wie erwachsenenpädagogisch Tätige solche Muster im Prozess der → Professionalisierung reflexiv bearbeiten und durch die Entwicklung von „H.-Sensibilität“ → Teilnehmerorientierung umsetzen können.
Literatur
Bourdieu, P. (1987). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bremer, H. & Pape, N. (2019). Habitus als Ressource der (Nicht-)Teilnahme an Weiterbildung. Überlegungen am Beispiel der Alphabetisierungsforschung. Hessische Blätter für Volksbildung, 69(4), 365–376.
Gieseke, W. (1989). Habitus von Erwachsenenbildnern. Eine qualitative Studie zur beruflichen Sozialisation. Oldenburg: BIS.
Wittpoth, J. (1994). Rahmungen und Spielräume des Selbst. Ein Beitrag zur Theorie der Erwachsenensozialisation im Anschluss an George H. Mead und Pierre Bourdieu. Frankfurt a. M.: Diesterweg.