Gruppendynamik

Stefan Stürmer

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-128

G. (engl. group dynamics) bezieht sich auf die Wahrnehmungs- und Interaktionsprozesse innerhalb und zwischen Gruppen (Interaktion – Kommunikation). Die Erforschung der G., einschließlich der Phänomene Gruppensozialisation, Gruppenleistung und Gruppenleitung, ist Gegenstand der sozial-psychologischen Kleingruppenforschung. Diese etablierte sich Mitte der 1940er Jahre als Forschungsfeld und integriert Ansätze aus Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Verhaltensökonomik und Evolutionsforschung. Als Meilenstein der fachlichen Entwicklung gilt die Gründung des Forschungszentrums für G. am Massachusetts Institute for Technology im Jahr 1946 durch den Psychologen Kurt Lewin.

G. lässt sich nicht allein durch die Merkmale der Gruppenmitglieder erklären, sondern erfordert die Berücksichtigung von Gruppenormen, sozialen Rollen und Gruppenstrukturen. Gruppennormen sind sozial geteilte, informelle Regeln, wie sich Gruppenmitglieder in bestimmten Situationen verhalten sollen und wie nicht. Das Befolgen der Regeln wird positiv (z. B. durch Anerkennung), die Abweichung negativ (z. B. durch Missbilligung) von anderen Gruppenmitgliedern oder Gruppenautoritäten sanktioniert. Soziale Rollen definieren das erwartete Verhalten von Personen, die bestimmte Positionen innerhalb der Gruppe einnehmen (z. B. Gruppenleiterin). Gruppenstrukturen beschreiben die Kommunikations- und Machtbeziehungen (z. B. Informationswege und Weisungsbefugnisse).

Die dynamische Entwicklung der Beziehung zwischen Individuum und Gruppe wird als „Gruppensozialisation“ (Sozialisation) bezeichnet. Diese vollzieht sich vom Eintritt in die Gruppe, über die Eingliederungsphase, in der sich das Gruppenmitglied einerseits an Gruppennormen und -rollen (Assimilation), anderseits diese an seine Bedürfnisse anzupassen versucht (Akkommodation), bis zum Austritt aus der Gruppe.

Modelle zur Gruppenkooperation erklären, wann und warum es zu Leistungsgewinnen oder -verlusten bei Gruppenarbeiten kommt. Koordinationsverluste entstehen, wenn Strukturen und Rollen unklar oder unzureichend entwickelt sind (z. B. durch unklare Zuständigkeiten und inneffektive Kommunikation). Motivationsverluste können daraus resultieren, dass individuelle Beiträge zur Zielerreichung nicht identifizierbar sind („Trittbrettfahren“), die Gruppenkohäsion („Wir-Gefühl“) gering ist oder Kooperationsanreize fehlen. Eine Heterogenität der Gruppenmitglieder kann sich in Abhängigkeit von der Kooperationsaufgabe sowohl positiv (durch höhere Vielfalt von Wissen und Kompetenzen) als auch negativ (durch ein größeres Potenzial für Missverständnisse und Subgruppenbildung) auf Gruppenleistungen auswirken. Ziel der Leitung von Gruppen ist es, Koordinations- und Motivationsverluste durch die Gestaltung der G. zu reduzieren und Motivationsgewinne zu fördern.

Die sog. Angewandte G. bezieht sich auf psychologische und pädagogische Methoden, mit deren Hilfe Gruppenprozesse verdeutlicht, reflektiert und gestaltet werden können. Die Gruppenmoderation (Moderation) hat dabei die Aufgabe, der Gruppe zu helfen, ihre Ziele effizient und eigenverantwortlich zu entwickeln. Moderierende sind für die Begleitung und Lenkung des Prozesses verantwortlich (z. B. achten sie darauf, dass sich alle Mitglieder frei äußern können und abweichende Meinungen Gehör finden), aber nicht für die Inhalte. Mithilfe von Methoden der Gruppenarbeit wird die gemeinsame Zielerreichung durch die Gestaltung der sozialen Beziehungen (z. B. Vertrauensübungen), der Wissensgenerierung (z. B. Brainstorming), des Wissensaustauschs (z. B. zwischen Kleingruppen und Plenum), der Entscheidungsfindung (z. B. Pro und Kontra abwägen) und des Feedbacks (z. B. Stimmungsbarometer erstellen) unterstützt. Bewertungskriterien für die Auswahl geeigneter Methoden sind ihre theoretisch-wissenschaftliche Fundierung sowie kontext- und zielgruppenspezifische Ergebnisse empirischer Wirksamkeitsprüfungen.

Literatur

Brocher, T. (1976). Gruppendynamik und Erwachsenenbildung: zum Problem der Entwicklung von Konformismus oder Autonomie in Arbeitsgruppen (12. Aufl.). Braunschweig: Westermann.

Stürmer, S. & Siem, B. (2020). Sozialpsychologie der Gruppe (2., akt. u. erw. Aufl., utb 3877). München: Ernst Reinhardt.

Wellhöfer, P. (2012). Gruppendynamik und soziales Lernen. Theorie und Praxis der Arbeit mit Gruppen (4. Aufl., utb 2192). Konstanz: UVK.

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